coe middle englandJonathan Coe, MIDDLE ENGLAND, Folio Verlag

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Das ist mir auch noch nicht passiert. Ich habe dieses Buch gleich zweimal gelesen. Als ich fertig war, wollte ich die so elegant und leicht in den Roman hineingestreuten geschichtlichen, psychoanalytischen, gesellschafts-politischen, kunstwissenschaftlichen, literaturwissenschaftlichen, erst recht die mentalitätsgeschichtlichen und regionalen Hintergründe/ Fakten/Erklärungen noch einmal lesen, ihren subtilen Witz in Ruhe genießen, denn beim ersten Mal gilt die Aufmerksamkeit des Lesers den handelnden Personen, der Geschichte selbst, dem Verlauf der Handlung, wie all die aufgeführten Personen mit- und gegeneinander agieren.

Dazu gibt es gleich sehr viel zu sagen. Und die Personen sind auch lebendig dargestellt, man hat es nicht mit Typen, mit Stereotypen zu tun, sondern mit Menschen, die aber gleichzeitig doch für Haltungen und für politische Positionen stehen, das alles ist sehr interessant, aber die eigentliche Wucht dieses Buches liegt in der so liebevollen wie analytisch scharfen, auch satirischen Analyse dessen, was am 24. Juni 2016 zum zwar knappen, aber überraschenden Brexit führte, dem Beschluß zum Austritt Großbritanniens aus der EU. Darum kann dieser Roman auch nicht im polyglotten, bunt gemischten London spielen, sondern MIDDLE ENGLAND ist hier die Heimstatt der Sehnsucht nach der verloren gegangenen Englishness, von der man sich verspricht, daß sie wieder Einzug in die englische Gesellschaft hält, wenn es gelingt, die gute alte Zeit wiederherzustellen, was bedeutet, die ganzen Einwanderungen aus den alten Kolonien wie auch aus Osteuropa und Asien auf jeden Fall zu stoppen und wenn möglich, diese Leute in ihre Heimaten, in die Herkunftsländer rückzuführen.

Das ist jetzt sehr pauschal ausgedrückt, denn das Wichtige an diesem Buch ist die Differenzierung, Und die liegt in den handelnden Personen, von denen man glaubt, sie haben alle einen Schlag weg, sehr individuell, schräg, seltsam sind, manche skurril. Vielleicht wird deshalb dieser Roman auch als Satire gelesen. Für uns wäre das zu kurz gegriffen, denn spätestens seit dem Film und dem Buch NoBody's Perfect von Niko Glasow über die menschlichen Folgen des Conterganverbrechens, haben wir einen Riesenrespekt vor einer liberalen Grundhaltung Englands, einem Menschen zuzutrauen, sich und sein Leben wohin auch immer entwickeln zu lassen. Der Druck zur Anpassung, zur ‚Normalität‘ ist einfach geringer oder gar nicht da. Hier im Roman wird das eher im Inneren des literarischen Personals ausgetragen, aber ändert sich gesellschaftlich gerade, wo auch in England und dort sogar verschärft, political correctness ein Totschlaginstrument geworden ist. Die ‚Helden‘ dieses Romans müssen auch keine Helden sein, wie es die verzweigte Familie Trotter mit ihren Freunden und Feinden auf gut englische Weise hier vormacht.

Die Lieblingsfigur des Autors ist Sophie, Tochter von Lois, geborene Trotter, am Anfang seit Jahrzehnten verheiratet mit Christopher, am Ende einvernehmlich geschieden. Oder ist es doch eher Benjamin Trotter, Bruder von Lois, also Onkel von Sophie. Auf jeden Fall beginnt mit ihm und seinem Vater Colin Trotter der Roman, direkt nach dem Begräbnis der Mutter, im April 2010 weshalb Benjamin den nach 45 Ehejahren verwaisten Vater erst einmal in sein neues Refugium mitnimmt, in das verwunschene Haus, eine umgebaute Mühle am Fluß Severn in den Midlands. Aus London in das Herz des ländlichen Englands ist Benjamin gezogen, um endlich den Roman fertigzustellen, an dem er seit 30 Jahren schreibt! Allein die Passagen, wie eine Freundes- und Verlegergruppe ihm sein dickes Buch zusammenstreicht, so daß nur die Liebesgeschichte, in der aber auch nichts passiert, übrigbleibt, seine autobiographische Liebesgeschichte dazu, die als Buch erst ein Flop, dann mit der Wahl auf die Longlist des Bookerprize vorübergehend literarisch ein Erfolg wird und ökonomisch aus dem Gröbsten heraushilft! Sie sind schon den Kauf des Romans wert!

Sophie, die Lichtgestalt, ist Kunsthistorikerin, eine frische, leicht naive junge Frau, die sich im multikulturellen London wohl fühlt und einen Freund für‘s Leben hat: Sodan, stockschwul und immer auf der Sonnenseite des Lebens. Inzwischen hat sie eine Stelle an der Birminghamer Universität, muß wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung ein Verkehrsseminar besuchen, verliebt sich in Ian, der dies durchführt, und nach vielen Buchseiten heiratet sie ihn. Leider. Denn der Leser weiß schon länger, daß dieser unbedarfte junge Mann bis vor kurzem bei seiner Mutter, wohnte, einer Schreckschraube wie sie im Buche steht, nach außen hui, nach innen pfui: fremdenfeindlich, ausbeuterisch mit Standesdünkeln, eifersüchtig. Zwar hat er inzwischen eine eigene Wohnung, aber die Sonntage gelten der Mutter, mit oder ohne Sophie.

Die macht den Fehler ihres Lebens, denkt der Leser, daß sie auf einer universitären Tagung in Marseilles nichts mit dem Kunsthistorikerkollegen aus den USA anfängt, macht noch mehr Fehler, trennt sich schließlich von Ian, der als einziger im Roman eine Entwicklung durchmacht, sich von seiner Mutter distanziert, so daß am Schluß sogar ein Zusammenleben beider wieder möglich wird. Es ist September 2018, die Geschwister Lois und Benjamin Rotter haben sich längst nach Frankreich aufgemacht und wir haben also tatsächlich acht Jahre der Geschichte dieser Familie miterlebt, im Kern aber der Geschichte Englands vor, inmitten und nach dem Brexit, der ursprünglich Brixit heißen sollte.

Die politische Agenda verkörpert am ehesten der Journalist Doug, der seit der Schulzeit mit den Rotters eng befreundet, der Labour Party nahesteht und dessen Umfeld besonders krude erscheint. Lange verheiratet mit einer Frau der oberen Zehntausend, die die Tories unterstützt, schreibt er in feinster Wohngegend in einem Riesenhaus seine Artikel dagegen, verbandelt sich dann mit einer den Brexit ablehnenden Abgeordneten der Konservativen Partei. Hilf Himmel, wenn seine Tochter Coriander die Zukunft Englands wäre, so viel Törichtes, ja Gemeines stellt sie schon auf den 473 Seiten des Romans an.

Was das alles ist, müssen Sie selber lesen, denn jeder, der Interesse an England - sei es das des Tolkien, das des Brexit – hat, für den ist MIDDLE ENGLAND ein Muß. Und für alle anderen auf sehr komische, humane Weise aufschlußreich.

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Info:
Jonathan Coe, MIDDLE ENGLAND, aus dem Englischen von Cathrine Hornung und Dieter Fuchs, Folio Verlag, 2020
ISBN 977-3-85256-801-0
E-Book
ISBN 978-3-990377-101-5