Deutscher Buchpreis 2020, Zwanzigerliste, Teil 6
Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Das gibt*s doch gar nicht. Ich hörte und las gerade DAS DECAMERON, ja, das Original von rund 1353 von Giovanni Boccaccio, 100 Novellen. Und dann las ich Leif Randt und dann Valerie Fritsch mit HERZKLAPPEN von Johnson & Johnson, bei Suhrkamp, beide auf der Zwanzigerliste zum Deutschen Buchpreis. Und da staunte ich: Fritsch fußt nach 650 Jahren sprachlich völlig auf dem Decameron, bei Randt fühlte ich mich auf New Speach, um ihn nicht mit Newspeak in die falsche Ecke zu stellen, obwohl Neusprech auf jeden Fall paßt.
Liebe Leute, muß das sein. Wenn Luther empfiehlt, dem Volk aufs Maul zu schauen, hat er damit ja nicht indiziert, sich Ausdrucksweisen anzudienen, die es ja bei einer bestimmten Gesellschaftsschicht im heutigen Deutschland geben mag, denen, die von morgen sein und dies in ihren Anglizismen zum Ausdruck bringen wollen, was ewig Gestrig wirkt. Gleichwohl, das ist so was von langweilig, zumal ich nur jeden dritten Ausdruck verstand. Und wenn ich bösartig wäre, würde ich sagen, daß das Romanende, in dem die Hauptperson dem Mann, der gerade von einer anderen Frau ein Kind erwartet, im Abschiedsbrief schreibt: „Ich liebe Dich – Tanja“ , daß dieses Ende nicht gekommen wäre, hätten sie in ihrer Beziehungsvermurksheit weniger gequatscht - erst recht kein Newspeak - und räsoniert, und sich so voreinander versteckt, stattdessen ihre Gefühle leben zu lassen.
Aber ich bin nicht bösartig und den Anfang las ich gespannt: „Gründonnerstag, 29. März 2018. Der Frankfurter Hauptbahnhof wurde von milder Abendsonne geflutet.“ Ein schönes und wahres Bild, wenn man ihn kennt. Und Jerome Daimler, als er „Tanja auf Höhe des Bordbistros aussteigen sah, überlegte er für einen Moment, ob er ihr entgegenlaufen sollte, aber dann fand er es charmanter, einfach stehen zu bleiben.“ Und da haben wir schon die Ursache von allem Übel, was noch kommt. Sich ständig selbst von außen zu sehen, die Fremdwirkung zu reflektieren, die ja nur eine ausgedachte, eine potentielle ist, nicht zu sich selber und seinem eigenen Inneren zu stehen, es zu suchen und dies auszudrücken zu lernen, ist des Pudels übler Kern. Aber wäre dies nicht so, hätte Leif Randt sicher keinen Roman über ein glückliches Liebespaar Tanja und Jerome geschrieben.
Die beiden sind keine Kinder, nicht mal Jugendliche, sondern ausgewachsene Dreißiger der akademischen Mittelschicht – er in nachgerade begüterten Verhältnissen, einmal von zu Hause aus, dann aufgrund seiner Gefragtheit als Webdesigner, sie halbbekannt nach ihrem ersten Roman, der ein Erfolg wurde und in dem es um Virtual-Reality-Erfahrung geht, weshalb „sie als Expertin für VR unter anderem in eine Talkshow von Markus Lanz eingeladen worden war.“ Sie lebt in Berlin - Hasenheide, er in Maintal. ? Maintal? So spricht doch keiner, der in den alten Gemeinden Bischofsheim, Dörnigheim (Denkem) oder dem ehrwürdigen Hochstadt lebt, die zu Maintal eingemeindet sind. Und richtig, später ist im Buch auch von Hochstadt die Rede, weshalb wir vermuten, daß Jerome in Bischofsheim im Bungalow der Eltern wohnt, die inzwischen getrennt, woanders leben. Das hat Spaß gemacht, mal mehr über die östliche Umgebung von Frankfurt, auch der Stadt selbst zu lesen und nicht nur über Berlin, wo ja inzwischen die meisten deutschen Romanhelden wohnen.
Daß Leif Randt von hier ist und sich auskennt, zeigt auch: „Jerome hatte seinen gemieteten Tesla-Jahreswagen an d r U-Bahn-Station Kruppstraße geparkt...“, von wo er nämlich nach Hause mit dem Wagen fährt, weil die nordmainische S-Bahn immer noch fehlt. Und es nicht noch mehr umweltschädlich, sondern bescheuert wäre, hätte er sie mit dem Wagen am Hauptbahnhof abgeholt, so gut ist inzwischen das übrige U- und S-Bahn Netzt. Und wir bekommen unterschwellig mit, ach so, so einer ist Jerome, fährt einen Tesla! Gemietet! Jahreswagen! Sicher absetzbar, denn er ist ein Mann, der durchaus in diesen finanziellen und technischen Dingen alles gut einschätzen und sich entsprechend verhalten kann. Gegenüber Tanja nicht. Da ist er verhalten, was ja was anderes ist.
Wenn man von Liebesgeschichten hört und liest, die mit Dreiecken ja Vierecken zu tun bekommen, muß einem einfach Heinrich Heine in den Sinn kommen, der das ein für alle mal gültig ausgedrückt hat:
Ein Jüngling liebt ein Mädchen,
Die hat einen Andern erwählt;
Der Andre liebt eine Andre,
Und hat sich mit dieser vermählt.
Das Mädchen heiratet aus Ärger
Den ersten besten Mann,
Der ihr in den Weg gelaufen;
Der Jüngling ist übel dran.
Es ist eine alte Geschichte,
Doch bleibt sie immer neu;
Und wem sie just passieret,
Dem bricht das Herz entzwei.
Man muß nur umdichten, hier ist es das Mädchen, die Frau Tanja, die erst einen anderen erwählt, weil sie sich der Liebe von Jerome nicht sicher ist, aber der ist dann derjenige, der aus Ärger die erste beste Frau, die ihm in den Weg läuft, schwängert, weshalb beiden, Tanja und Jerome das Herz entzwei bricht und sie mit gebrochenem Herzen ihm endlich die Wahrheit sagen kann, auf die er zuvor vergeblich hoffte: Ich liebe dich.
Für diesen Roman kommt dies zu spät, aber eigentlich fängt jetzt der neue Roman ja erst an. In Zeiten von Serien wäre das der sogenannte Cliffhanger, der den Auftakt für die Fortsetzung gibt. Bitte ohne das anbiedernde, auf Englisch gequälte Deutsch.
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Cover
Info:
Leif Randt, Allegro Pastell, Kiepenheuer & Witsch 2020
ISBN 978-3-462-05358-6
Lesen Sie in den LESEPROBEN des Börsenvereins ab Seite 68