Deutscher Buchpreis 2020, Zwanzigerliste, Teil 7
Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Na, da hatte ich mich ja weit aus dem Fenster gehängt, die Grazerin mit dem italienischen Nachbarn Boccaccio aus dem Vierzehnten Jahrhundert in einen Zusammenhang zu bringen. Aber der ist einfach da, wenn man Geschichtenerzählen unter sprachlichem Aspekt betrachtet. Inhaltlich ist so ungefähr alles anders, ganz anders.
Mit diesem Buch ist es mir so gegangen, daß ich mit den handelnden Personen nie wirklich warm wurde – ich glaube, das soll man auch gar nicht -, ich aber die ganzen 175 Seiten lang bei mir dachte, da schreibt eine sehr talentierte Person, manchmal ein bißchen manieriert, aber doch mit eigenem Ausdruck auf der Suche nach Welterklärungen, die hier im Mitempfinden des Lebens und der Schmerzen anderer Menschen liegt, was ja voraussetzt, daß ich überhaupt die eigenen empfinden kann.
Und da liegt es beim Sohn von Alma und Friedrich im Argen, zumindest, was die körperlichen Schmerzen angeht. Denn er fühlt keine. Davon und von der Angst der Eltern, was ihrem Kind passieren kann, das durch Fühlen, - heißt es doch schon im alten deutschen Sprichwort: „Wer nicht hören will, muss fühlen“, was hier absurd wird - .hier durch die Unfähigkeit, Schmerzen zu fühlen, auch nicht lernen kann, wo und wie er sie vermeidet, handelt die Geschichte, in der ich mich unaufhörlich fragte, daß doch aber der körperliche Schmerz keine Voraussetzung für seelischen Schmerz ist, hier aber eine derartige tiefere Bedeutung erhält. Kinder leiden doch an seelischen Schmerzen sehr viel tiefer als an körperlichen. Aber tuen wir mal so, als ob das hier synonym wäre, symbolisch gewisserweise, weil sonst die Geschichte nicht wirkt.
Denn sie wirkt, wenn Fritsch die Situationen schildert, in denen das Kind nichts fühlt, die Eltern aber um so mehr. Gefühlt hat Alma schon als kleines Kind, wenn sie an der Zimmertür dem Streit der Eltern zuhörte und selbst Schmerzen empfand. ,Aber auch Befriedigung, denn sie lernte ihre eher reservierte, kontrollierte Mutter von einer anderen Seite kennen, die sich steigerte, wenn sie somnambul den größten Unsinn machte und der Vater sie heim ins Bett holte. Aha, sie ist eine, die doch stark über andere lebt, dachte ich dann und dies Gefühl ließ mich auch nicht mehr los.
Denn dies ist der Gehalt des Buches, darum geht es. Beim Lesen darüber, was wir alle an Ungesagtem in Familien doch unter der Haut und in der Seele spüren, was meist irgendwie herauskommt, häufig in Familienaufstellungen, Psychotherapien, erst recht der Psychoanalyse, will ich an einem Film verdeutlichen, den die Nichte des berühmten peruanischen Schriftstellers Claudia Llossa vor Jahren auf der Berlinale aufführte und dafür den Goldenen Bären gewann: La Teta asustada. Da ging es darum, daß im Bürgerkrieg um 1980 auf beiden Seiten die Frauen in Massen vergewaltigt wurden und dies nachweislich durch Muttermilch übertragen wurde, weil auch die Kinder und Kindeskinder unter den Ängsten der Mütter litten. Eine interessante Theorie, die im Buch von Valerie Fritsch Leben wird.
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Info:
Valerie Fritsch, Herzklappen von Johnson & Johnson, Suhrkamp Verlag 2020
ISBN: 978-3-518-42917-4