Deutscher Buchpreis 2020, Zwanzigerliste, Teil 8
Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Karline ist die Großmutter von Samuel, im gewissen Sinn die Hauptfigur in dieser Familien-, Zeit- und Sittengeschichte. Sie kommt zu Besuch in das kleine Dorf im Banat, an ihr ist alles wie aus einer anderen Zeit. Die Haare hochgesteckt, die Handtasche in der Armbeuge. Sie hatte ihre genauen Vorstellungen, wie man sprach, wie man aß, wie alles zu tun sei. „Sie sagte mit einem Blick auf ihre Schwiegertochter‘, Samuels Mutter Florentine: „‘Daß hier niemand eine einheimische Suppe zu kochen imstande ist.‘“
„‘Was meinst Du mit einheimisch? Schwäbisch, slowakisch, ungarisch, rumänisch, tschechisch, jüdisch oder vielleicht serbisch?“ , fragte Florentine. Wir sind im Banat, wo diese Familiengeschichte anfängt und endet, dazwischen liegen viele Jahre. Banat? Darauf muß man historisch antworten, daß das Banat heute in den Staaten Rumäniens, Serbien und Ungarn liegt. Wir kennen eigentlich nur das rumänische Banat, wo einst die Donauschwaben zu Hause waren, die vom Habsburgerreich nach dem Sieg über die Türken auch in anderen Teilen Südosteuropas gezielt angesiedelt wurden, am liebsten Süddeutsche-Österreicher, was man der Sprache, ihren Begriffen noch heute anmerkt; die meisten Deutschsprachigen gab es dann in Temeschburg/Temeswar/Timisoara. Zerschlagen hat das Banat, in dem die Deutschen, die bis dahin aber zum Kaisertum Österreich-Ungarn gehörten sowie die Mehrheit stellten, der Erste Weltkrieg. Interessant die Zahlen im Jahr 1913 im Temescher Banat, also der Region mit über 500 000 Einwohnern, von den rund 170 000 Rumänen waren, dicht gefolgt von den Deutschen, Ungarn mit 80 000 und 70 000 Serben.
Wie es kommt, daß in unseren Tagen so viele Schriftsteller von dort kommen, kann man nicht erklären, nur konstatierten: Nobelpreisträgerin Herta Müller, Oskar Pastior, Richard Wagner sind da nur die Spitze des Eisbergs, zu der sich nun Iris Wolff mit ihrem dritten Roman und einem Erzählband gesellt. Die 1977 in Siebenbürgern Geborene wuchs dann im Banat auf, kam 1985 mit ihrer Familie in die Bundesrepublik, studierte Germanistik und Literatur in Marburg, arbeitete zehn Jahre im Deutschen Literaturarchiv Marbach und lebt jetzt in Freiburg im Breisgau.
DIE UNSCHÄRFE DER WELT ist nicht nur eine Liebeserklärung an ihre alte Heimat, sondern auch eine an die deutsche Sprache. Sie besticht durch eine so traumhafte wie traumverlorene Sprache. Ich finde keine Worte für die Fähigkeit dieser Schriftstellerin mit Alltagsworten ganz neue Gefühlsebenen, sprachliche Kontexte zu bilden, die so noch nie gesagt worden sind. Ich fange gar nicht erst mit Beispielen an, dann könnte man eine Viertel des Romans von 213 Seiten zitieren. Wem der sprachliche Ausdruck wichtig ist, der muß dieses Buch lesen. Man verliebt sich gewissermaßen in ihr Deutsch. Dabei gibt es nur eine kleine Einschränkung. Zuerst registriert man erstaunt, daß ihr so spezielles Deutsch nichts Gekünsteltes hat, keine Manierismen aufweist, findet dann doch, daß sie manchmal einen Hohen Ton anschlägt, aber nur anschlägt, an dem sie dann glücklich entlangschrammt, ohne Blessuren für Sprache und handelnde Personen.
Die Geschichte beginnt in dem kleinen Dorf im Banat mit dem Pfarrer Hannes und seiner Frau Florentine, die gerade ein Kind erwartet, das durch eine Fehlgeburt gefährdet ist, das aber und mit ihm Florentine gerettet wird: Samuel, der die ersten Jahre stumm bleibt. Anders ergeht es ihrer besten Freundin Nika, die hatte, erneut schwanger, mit ihrer reichen Kinderschar genug und spritzte nicht nur das ungeborene Kind, sondern auch sich in den Tod. Die mutterlose Familie, um die sich Florentine kümmert, spielt auch insofern eine Rolle, als aus ihr Oz stammt, der beste Freund von Samuel wird. Aus der dritten befreundeten Familie kommt mit Stana/Sana Samuels Kinder- und Jugendgespielin, bei deren Transformation in jugendliches Verliebtsein wir dabei sind und staunen, wie Iris Wolff dies in Worte kleidet.
Sanas Vater allerdings ist der im Dorf zuständige Securitate, der alles genau wissen will , damit er das weiterleiten kann und am Pfarrer Hannes auch berufliches Interesse hat. Denn im Pfarrhaus kommen immer wieder Studenten aus der DDR zu Besuch. Obwohl das ja das sozialistische Bruderland ist, scheint es gefährlich. Hier jedoch hat das das Lehramt anstrebende Schwulenpärchen, was natürlich keiner wissen darf und erst nach dem Zusammenbruch des Staates wahr sein darf, nach dem sich Sanas Vater so erkundigt, eher eine dramaturgische Funktion, denn auf diesen Bene trifft Samuel im Westen, in dem er zusammen mit Freund Oz landet, nachdem sie schon ein wenig wie der Zauberer von Oz mit einem Drachen, einem Kleinflugzeug nach Österreich abgehauen sind und von da in die Bundesrepublik kommen.
Und dann kommt 1989/90. Samuel kann endlich seine Eltern besuchen, wobei er dort auf Sana trifft, der er ständig Briefe geschrieben hatten, die sie nie erwiderte. Nun tritt sie aus der Tür ein kleines Mädchen an der Hand....
Ja, wäre nicht diese Sprache, wäre das zu glatt, wie das Leben hier alles zusammenführt. Wie alles gut ausgeht. Aber so sind wir froh und kommen mit dem allerletzten Einwand. Die Landschaft, die Dinge sind wunderbar beschrieben, die Menschen mir dennoch sehr fremd, sogar ein wenig gleichgültig geblieben. Irgendwie von einem anderen Stern. Aber, sage ich mir, das muß an mir liegen.
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Info:
Iris Wolff, Die Unschärfe der Welt, Klett-Cotta
ISBN 978-3-608-98326-5