Serie: DIE KRIMIBESTENLISTE im November 2020 , Teil 1
Elisabeth Römer
Hamburg (Weltexpresso) – Diesmal ist die Krimibestenliste mit uns gnädig, denn es bleiben sieben der zehn Krimis auch im November auf der Liste. Atemholen und im coronabedingten Mehrzuhausesein auf diese Weise auch für die, die mit dem Lesen hinterherhecheln, eine Möglichkeit, aufzuschließen und für alle Krimis eben auch zu überprüfen, ob sie der Liste folgen oder die Krimis anders plaziert hätten.
Um das einschätzen zu können, muß man Krimis kennen und natürlich ist eine Krimibestenliste immer eine, worauf sich bestimmte Leute, hier die Jury einigen können. Das ist ja noch recht übersichtlich. Aber schwierig wird es dann, wenn man der Meinung ist, daß andere Krimis auch auf die Liste gehörten, denn dann muß man diese ja auch gelesen haben, was zu denen, die auf der Liste stehen, hinzukommt. Man sieht, daß sich WELTEXPRESSO bemüht, sowohl die Krimis der Bestenliste, wie auch andere vorzustellen und darum kommt es in Redaktionskonferenzen auch immer wieder zu Diskussionen darüber, was es überhaupt heißt: ein guter Krimi, ein bester Krimi, ein schlechter Krimi. Doch die gibt es auch und nicht zu wenig, aber bei der Plazierung auf der Krimibestenliste geht es meist um die Vorliebe für eine bestimmte Art von Krimi, die sich an dem US-Noir orientiert. Aber das galt für Vorgestern. Seit die Frauen so mitmischen, hat sich das fortlaufend geändert.
Und schon sind wir bei Denise Mina, deren neuester Roman GÖTTER UND TIERE, Ariadne im Argument Verlag, aus dem Stand gleich auf den ersten Platz schoß. Wir haben ihn noch nicht gelesen, kennen aber ihre anderen und glauben dem Sprecher der Jury und Patron der Liste, Tobias Gohlis aufs Wort:
„Selten ist ein Titel so einhellig an die Spitze der Krimibestenliste katapultiert worden wie Götter und Tiere.
Der Roman erschien bereits 2012 im Original. Dass er erst jetzt auf Deutsch erscheint, hat mit den kommerziellen Strategien großer Konzernverlage zu tun. Obwohl die 1966 in Glasgow geborene Juristin, vielfach ausgezeichnete Krimi- und Theaterschriftstellerin Denise Mina praktisch seit ihrem ersten Roman 1998 zur „Princess of Tartan Noir“ ausgerufen wurde und heute zu den international anerkannten (schottischen) Krimischriftstellern zählt, erzielten ihre komplexen, aber keineswegs abgehobenen Kriminalromane um die Reporterin Paddy Meehan und die Detective Alex Morrow sowie etliche andere Titel in deutschen Konzernverlagen nicht genug Auflage, um in Reihe produziert zu werden. So ist es dem kleinen, um Kriminalliteratur von Frauen seit Jahrzehnten hoch verdienten Label Ariadne im Argumentverlag zu verdanken, dass die im Großverlag für unrentabel gehaltenen Perlen dieser großartigen und in Deutschland viel zu wenig bekannten Autorin in guten Übersetzungen erscheinen.
Götter und Tiere bildet das Mittelstück von Denise Minas Quintett um Alex Morrow, erst Detective Sergeant, ab Band vier (Das Vergessen) Detective Inspector der für Glasgow und Umgebung zuständigen Strathclyde Police, die 2013 ihre Selbständigkeit verlieren und Teil von Police Scotland werden wird.
Alex hat Zwillinge bekommen, der Stress des Stillens steigert die Spannung, trotzdem bleibt sie bewundernswert cool und resolut. Auch als eine von ihr geschätzte Detective Constable gestehen muss, dass sie tief in den Geldsack gegriffen hat, der ihr verführerisch aus einem Kofferraum entgegenleuchtete.
Götter und Tiere ist ein dermaßen vielschichtiger und komplexer Roman, dass die Rezensionen aus der Jury jeweils einen verschiedenen Aspekt betonen.
Sylvia Staude liest in der Frankfurter Rundschau einen Gesellschaftsroman:
„Denise Mina hebt die Dächer von den Glasgower Häusern und lässt uns hineinspähen und -hören. Ohne es an Action und Gewalt jemals zu übertreiben. Sie hält den Ball flach, sie überzeugt umso mehr. Wahnsinnig gern würde man bald einen Kriminalroman über die Corona-Zeit von ihr lesen.“
Fritz Göttler hat in der Süddeutschen Zeitung einen politischen Famlienroman gelesen und charakterisiert ihn, als der Filmkritiker, der er hauptsächlich ist, in eindrucksvollen Szenen.
Und ich habe im Deutschlandfunk Kultur Götter und Tiere in der Tradition des Krimis als Roman einer Stadt gesehen.“, sagt Tobias Gohlis
Fortsetzung folgt
KRIMIBESTENLISTE NOVEMBER 2020
1(-)
Denise Mina
Götter und Tiere
Aus dem Englischen von Karen Gerwig.
Ariadne im Argument Verlag, 352 Seiten, 21 Euro
Glasgow. Ein Raubüberfall mit Todesopfer, ein alternder Labour-Politiker in Seitensprung-Kalamitäten, Polizisten mit Bergen von Bestechungsgeld, ein moralisch unsicherer Erbe – alles ganz normal. Die Serie um Detective Alex Morrow: das hellwache Porträt einer starken Frau und ihrer chaotischen Stadt.
2(1)
Garry Disher
Hope Hill Drive
Aus dem Englischen von Peter Torberg.
Unionsverlag, 334 Seiten, 22 Euro
„Tiverton“, South Australia. Alles wie immer: Es wird geklaut, gesoffen, geprügelt.Einsame sind einsam. Hirsch, allein auf sehr weiter Flur, ist „freundlicher Dorfpolizist“. Da wird eine Frau erschossen, zwei Kinder fliehen, HauptstadtCops schaffen Chaos. Große Literatur, entstanden aus Kleinem.
3(9)
Un-Su Kim
Heißes Blut
Aus dem Französischen von Sabine Schwenk.
Europa Verlag, 582 Seiten, 24 Euro
Busan 1993. Guam – das ist Tradition, Strand, Verbrechen im Kleinformat. Für Vater Son managt Huisu seit 20 Jahren dort das Hotel und die Deals, einsam und besonnen achtet er die Regeln. Bis ihm Selbständigkeit winkt. Großes Sozial- und Gangsterepos: Neu verdrängt Alt, Globalisierung steigert Gewalt.
4(5)
Joachim B. Schmidt
Kalmann
Diogenes, 352 Seiten, 22 Euro
Raufarhöfn, Island. Kalmann vergisst viel und rechnet schlecht, aber sein Gammelhai ist der zweitbeste in Island. Als er am Arctic Henge eine Blutlache entdeckt,sagt er gleich Bescheid. Hat ein Eisbär Róbert gefressen? Einfühlsame Variante des Topos „behinderter Detektiv“ in grandioser Landschaft.
5(3)
Sara Sligar
Alles, was zu ihr gehört
Aus dem Englischen von Ulrike Brauns.
Hanserblau, 432 Seiten, 16 Euro
„Callinas“, Marin County. „Ob die Narben auf meinen Fotos echt sind?“ Fotografin Miranda Brand hat sich den Kopf weggeschossen – oder doch nicht?Archivarin Kate, weggemobbt, traumatisiert, soll ihren Nachlass für Sohn undKunstwelt erschließen. Psychothriller, Künstlerinnenroman, feines Debüt.
6(-)
Robert Brack
Dammbruch
Ellert & Richter, 240 Seiten, 12 Euro
Hamburg, Februar 1962. Dämme brechen, das Wasser steigt, wer wird überleben?
Tresorknacker Lou will mit Goldschatz nach Kuba. Der junge Piet wird zum Lebensretter. Betty bekämpft ihre bösen Erinnerungen mit der Garotte. Die Fluten reißen alles mit. Mittendrin die kleinen Kämpfe ums Überleben. Echt.
7(8)
Marcie Rendon
Stadt, Land, Raub
Aus dem Englischen von Jonas Jakob.
Ariadne im Argument Verlag, 238 Seiten, 13 Euro
Fargo / Moorhead, etwa 1971. Nachts fährt Cash Rüben und spielt Billard, tagsüber geht sie aufs College, verwundet durch eine Kindheit in Zwangspflegschaft. Prostitution, Akademiker und große Städte lernt die Native American erst richtig kennen, als sie einen Essay-Preis erhält. Großartig.
8(4)
Max Annas
Morduntersuchungskommission.
Der Fall Melchior Nikoleit
Rowohlt, 336 Seiten, 20 Euro
Gera, Jena 1985. Melchior war Bassist einer Punk-Band. Jetzt liegt der 19-Jährige tot im Schuppen. Die Ermittler stöbern in unsozialistischem Familiendreck:Kriegsverbrechen, Diebstahl, Prügel. Freundin Julia erzählt von Aufbruch, Musik,Liebe und Verrat. Hommage an Punk, die Sehnsucht, frei zu sein.
9(2)
Steph Cha
Brandsätze
Aus dem Englischen von Karen Witthuhn.
Ars Vivendi, 336 Seiten, 22 Euro
Los Angeles. 1991 wurde Afroamerikanerin Ava, 15, von der koreanischen Ladenbesitzerin Yvonne erschossen, 2019 wird diese selbst Opfer eines Attentats. Nach einem realen Fall und Mustern en masse erzählt Cha vom Kampf zweier Familien beim persönlichen Versuch, dem Fluch des Rassismus zu entgehen.
10(-)
Éric Plamondon
Taqawan
Aus dem Französischen von Anne Thomas.
Lenos, 208 Seiten, 22 Euro
Restigouche, Québec. 1981 zerreißen Polizisten die Lachsnetze der Mi’gmaq, die fünfzehnjährige Océane wird vergewaltigt. Zwei Einzelgänger, Ranger Leclerc und Mi’gmaq William, helfen dem Opfer, klären auf und üben Rache. Knapp, aber oho: Essay über weißen Kolonialismus und strukturelle Gewalt – als Krimi.
Die Krimibestenliste, wo kann man sie lesen, wer erstellt sie, wo wird sie veröffentlicht?
WO? außerhalb von WELTEXPRESSO
Die Krimibestenliste auf Deutschlandfunk Kultur
www.deutschlandfunkkultur.de
Die Krimibestenliste erscheint am ersten Sonntag des Monats: www.faz.net
Die zehn besten Kriminalromane der Monate in 2020 sind allerdings nur noch über online verfügbar. In der Vergangenheit veröffentlichte die FAS, die Sonntagszeitung der FAZ, an jedem ersten Sonntag im Monat die jeweilige Liste im Feuilletonteil. Leider gibt es die Liste seit 2020 nur noch im Internet. Ob die FAZ und FAS wissen, welche Einbuße sie damit bei Krimilesern erfahren?
An jedem ersten Sonntag des Monats geben 19 Literaturkritiker und Krimispezialisten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz die Kriminalromane bekannt, die ihnen am besten gefallen haben. Die Krimibestenliste ist eine Kooperation der Frankfurter Allgemeinen mit Deutschlandfunk Kultur.
Die Jury:
Tobias Gohlis, Sprecher der Jury |
Volker Albers, „Hamburger Abendblatt“ |
Andreas Ammer, „Druckfrisch“, BR |
Gunter Blank, „Rolling Stone“ |
Thekla Dannenberg, „Perlentaucher“ |
Hanspeter Eggenberger, „Tages-Anzeiger“ |
Fritz Göttler, „Süddeutsche Zeitung“ |
Jutta Günther, „Radio Bremen Zwei“ |
Sonja Hartl, „Zeilenkino“, „Culturmag“, „Deutschlandfunk Kultur“ |
Hannes Hintermeier, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ |
Peter Körte, „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ |
Alf Mayer, „Culturmag“, „Strandgut“ |
Kolja Mensing, „Deutschlandfunk Kultur“ |
Marcus Müntefering, „Der Spiegel“ |
Ulrich Noller, „Deutschlandfunk Kultur“, „Deutschlandfunk“, SWR, WDR |
Frank Rumpel, SWR |
Ingeborg Sperl, „Der Standard“ |
Sylvia Staude, „Frankfurter Rundschau“ |
Jochen Vogt, „NRZ“, „WAZ“
Foto:
Cover
Info:
Besprechungen der Krimibestenliste im August 2020
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Besprechungen der Krimibestenliste im September 2020
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Besprechungen der Krimibestenliste im Oktober
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