Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - So einen Roman habe ich noch nicht gelesen, der zwischen einem Buch über kanadische Geschichte und Ethnologie - hier die der Ureinwohner, die ja selber zugewanderten Indianer, Mi'gmaq, und ihre Unterdrückung, ja Abschlachtung durch die Kolonisatoren , erst Franzosen, dann Amerikaner, die sich nun Kanadier nennen, ob Franko-Kanadier oder englischsprachige - einerseits und einer besonders üblen Vergewaltigung eines jungen indigenen Mädchens andererseits. Gerade mal 198 Seiten lang, hatte ich einen ganzen Tag zum Lesen gebraucht, weil die geschichtliche Materie so unter die Haut geht, daß man selbst an anderer Stelle weiterliest...
Natürlich geht auch der Kriminalfall unter die Haut, da braucht es gar nicht erst ein indigines Mädchen, Vergewaltigungen sind auch in Kriminalromanen schrecklich zu lesen, aber diese hier hat eine dramaturgisch wichtige Funktion, weil der Mann, der das Mädchen verletzt und verwirrt auffindet, der Ranger Leclerc ist, der zuvor bei der Polizei war, aber diese aus eigenem Antrieb verlassen hatte und nun vom Lachsfang und vom Wald und seinen Tieren lebt. Unglaublich, wie viel man nicht nur über die kanadische Geschichte und Kolonialgeschichte, sondern eigentlich über alle Lebensbereiche lernt, die bei uns systematisch zu kurz kommen: Natur, Naturgeschichte, Planzenkunde, Essen, Wasser- wie Luftbeschaffenheit, Himmel und Sterne, Klima und Stürme, Regen, Sonne. Es ist , und darumein Faß ohne Boden, deshalb braucht es Zeit, diese vielen Informationen aufzunehmen, die mal in Romanform, dann aber auch als Essay oder Kurzgeschichte daherkommen.
Bleiben wir bei den Lachsen, bevor der Krimi die Hauptrolle spielt. Ich hätte das nie für möglich gehalten, daß ich zur Fachfrau würde, nein, nicht zum Lachsfang, denn das lese ich höchst ungern, überlese es gewissermaßen, aber Fachfrau zu Lachsen. Denn diese spielen eine eindrucksvolle Nebenrolle im Roman TAQAWAN, der in der kanadischen Provinz Quebec spielt, also an der Ostküste Kanadas; eine genau so eindrucksvolle Nebenrolle haben die Lachse im Film DER BÄR IN MIR dargestellt, genau auf der anderen Seite Kanadas, in Alaska, https://weltexpresso.de/index.php/kino/20169-der-baer-in-mir . Dort sieht man nämlich mit eigenen Augen, was in TAQAWAN beschrieben wird, wie die Lachse nach einem mindestens dreijährigen Leben in den Salzwassermeeren zurückkehren an ihre Laichgründe in den Süßwasserflüssen. Dazu müssen sie die Höhen nach oben bewältigen, also springen, auch Wasserfälle nach oben überwinden. Das geht überhaupt nur, weil ihre Nieren und ihr Organsystem in der Lage ist, sich von Salz- auf Süßwasser umzustellen, was sie ja auch bewältigt hatten, als sie als ungefähr Einjährige von den Laichgründen, den Süßwasserquellen und -flüssen, sich auf den Weg in die Meere gemacht hatten. Bis vier Wochen brauchen sie für die Umstellung ihres Ökosystems, was nicht alle überleben, was dann auch für den Schwund bei ihrer Wasserwanderung nach Hause gilt, denn da oben sind sie selbst einst aus den klebrigen Eiern, die die trächtigen Lachse an Unterwasserpflanen abstreifen/anheften, als Larven geschlüpft. Und dieses Zurückkehren der Lachse an den Ort ihrer Geburt, das nennen die Mi'gmaq TAQAWAN.
Das ist nur eines der spannenden Themen, die in diesem Allroundkrimi eine Rolle spielen, denn abgehandelt würde zu abstrakt klingen, es sind keine aufgesetzten Informationen, sondern sie passen in den Gesamtzusammenhang der Geschichte, um die es natürlich in der Hauptsache geht und die gegen Schluß kräftig Fahrt aufnimmt und zu einem knallarten und aufregenden Krimi wird. Wieviel darf man verraten? Die Krimihandlung ist eingebettet in einen Protest der indigenen Bevölkerung in Quebec, der sich im Jahr 1981 tatsächlich am 11. Juni ereignet hat, als die Polizei in einer brutalen Razzia die Fischernetze der Mi'gmac zerstört, 'verhaftet', also den Fischern wegnimmt, was deren Lebensgrundlage zerstört. Der Grund ist sehr einsichtig und kapitalistisch begründet. Denn die Flußgründe werden wie die Meeresbuchten für gutes Geld an Nordamerikaner zum Fischen vermietet, die an dieser Stelle besonderes kurze Wege in die USA haben. Der Aufstand der Bevölkerung wird brutal niedergeschlafen, einschließlich von Toten. Auf der Brücke haben das einheimische Kinder, die auf dem Heimweg von der Schule sind, beobachtet, auch die fünfzehnjährige Océane.
Das ist aber nur der Hintergrund für den Krimi, in dem sich das junge vergewaltigte Mädchen, das von Leclerc am Fluß im Wald gefunden wird, als diese Océane herausstellt, die von den Eltern vermißt, nun überall gesucht wird. Der Ranger Leclerc ist ein umsichtiger Mann, der sich mit dem älteren William die richtige Hilfe sucht. Denn der lebt nicht wie die anderen Mi'gmaq im Reservat, sondern allein und ist mit allen Wassern gewaschen. Er kann sich mit dem verstörten Mädchen unterhalten und erfährt von ihr, daß sie von drei Polizisten verschleppt und vergewaltigt worden ist. Da wissen die beiden Männer, daß Océane nun erst einmal eine hilfreiche Frau braucht. am besten nicht die Eltern und auch nicht zurück ins Reservat, sondern eine Unterkunft, wo sich Océane berappeln und ihre psychischen Traumate und physischen Verletzungen verarbeiten kann. Da fällt Ives Leclerc sofort seine Ex-Affäre ein, die französische Lehrerin Caroline, die, was üblich ist, ein Jahr im französichsprechenden Teil Kanadas unterrichtet hat und jetzt nach Europa zurückgehen wird. Gesagt, getan. Dort allerdings hat sich seit dem 11. Juni ein Anthropologe namens Pierre eingenistet, nur als Untermieter, der aber sofort auszieht und Platz macht für das niedergeschlagene Mädchen, das durch die Zuwendung von Caroline ihre Sprache und ihren Mut wiederfindet.
Das allerdings ist nur die Vorgeschichte für die Krimihandlung, die nun folgt. Als nämlich Ives und William am nächsten Tag zum Haus der Caroline fahren, finden sie dieses offen, verwüstet - und vor allem leer: beide Frauen sind weg. Was jetzt passiert ist einerseits kreative Detektivarbeit der beiden, die clever, aber auch körperlich knallhart agieren müssen, um Océane und Caroline zu retten, was natürlich mit Blessuren gelingt, aber die Hintergründe, wer und was und warum, das darf hier nicht verraten werden, denn da hat Autor Plamodon wirklich Überraschungen zu bieten.
KRIMIBESTENLISTE NOVEMBER 2020
1(-)
Denise Mina
Götter und Tiere
Aus dem Englischen von Karen Gerwig.
Ariadne im Argument Verlag, 352 Seiten, 21 Euro
Glasgow. Ein Raubüberfall mit Todesopfer, ein alternder Labour-Politiker in Seitensprung-Kalamitäten, Polizisten mit Bergen von Bestechungsgeld, ein moralisch unsicherer Erbe – alles ganz normal. Die Serie um Detective Alex Morrow: das hellwache Porträt einer starken Frau und ihrer chaotischen Stadt.
2(1)
Garry Disher
Hope Hill Drive
Aus dem Englischen von Peter Torberg.
Unionsverlag, 334 Seiten, 22 Euro
„Tiverton“, South Australia. Alles wie immer: Es wird geklaut, gesoffen, geprügelt.Einsame sind einsam. Hirsch, allein auf sehr weiter Flur, ist „freundlicher Dorfpolizist“. Da wird eine Frau erschossen, zwei Kinder fliehen, HauptstadtCops schaffen Chaos. Große Literatur, entstanden aus Kleinem.
3(9)
Un-Su Kim
Heißes Blut
Aus dem Französischen von Sabine Schwenk.
Europa Verlag, 582 Seiten, 24 Euro
Busan 1993. Guam – das ist Tradition, Strand, Verbrechen im Kleinformat. Für Vater Son managt Huisu seit 20 Jahren dort das Hotel und die Deals, einsam und besonnen achtet er die Regeln. Bis ihm Selbständigkeit winkt. Großes Sozial- und Gangsterepos: Neu verdrängt Alt, Globalisierung steigert Gewalt.
4(5)
Joachim B. Schmidt
Kalmann
Diogenes, 352 Seiten, 22 Euro
Raufarhöfn, Island. Kalmann vergisst viel und rechnet schlecht, aber sein Gammelhai ist der zweitbeste in Island. Als er am Arctic Henge eine Blutlache entdeckt,sagt er gleich Bescheid. Hat ein Eisbär Róbert gefressen? Einfühlsame Variante des Topos „behinderter Detektiv“ in grandioser Landschaft.
5(3)
Sara Sligar
Alles, was zu ihr gehört
Aus dem Englischen von Ulrike Brauns.
Hanserblau, 432 Seiten, 16 Euro
„Callinas“, Marin County. „Ob die Narben auf meinen Fotos echt sind?“ Fotografin Miranda Brand hat sich den Kopf weggeschossen – oder doch nicht?Archivarin Kate, weggemobbt, traumatisiert, soll ihren Nachlass für Sohn undKunstwelt erschließen. Psychothriller, Künstlerinnenroman, feines Debüt.
6(-)
Robert Brack
Dammbruch
Ellert & Richter, 240 Seiten, 12 Euro
Hamburg, Februar 1962. Dämme brechen, das Wasser steigt, wer wird überleben?
Tresorknacker Lou will mit Goldschatz nach Kuba. Der junge Piet wird zum Lebensretter. Betty bekämpft ihre bösen Erinnerungen mit der Garotte. Die Fluten reißen alles mit. Mittendrin die kleinen Kämpfe ums Überleben. Echt.
7(8)
Marcie Rendon
Stadt, Land, Raub
Aus dem Englischen von Jonas Jakob.
Ariadne im Argument Verlag, 238 Seiten, 13 Euro
Fargo / Moorhead, etwa 1971. Nachts fährt Cash Rüben und spielt Billard, tagsüber geht sie aufs College, verwundet durch eine Kindheit in Zwangspflegschaft. Prostitution, Akademiker und große Städte lernt die Native American erst richtig kennen, als sie einen Essay-Preis erhält. Großartig.
8(4)
Max Annas
Morduntersuchungskommission.
Der Fall Melchior Nikoleit
Rowohlt, 336 Seiten, 20 Euro
Gera, Jena 1985. Melchior war Bassist einer Punk-Band. Jetzt liegt der 19-Jährige tot im Schuppen. Die Ermittler stöbern in unsozialistischem Familiendreck:Kriegsverbrechen, Diebstahl, Prügel. Freundin Julia erzählt von Aufbruch, Musik,Liebe und Verrat. Hommage an Punk, die Sehnsucht, frei zu sein.
9(2)
Steph Cha
Brandsätze
Aus dem Englischen von Karen Witthuhn.
Ars Vivendi, 336 Seiten, 22 Euro
Los Angeles. 1991 wurde Afroamerikanerin Ava, 15, von der koreanischen Ladenbesitzerin Yvonne erschossen, 2019 wird diese selbst Opfer eines Attentats. Nach einem realen Fall und Mustern en masse erzählt Cha vom Kampf zweier Familien beim persönlichen Versuch, dem Fluch des Rassismus zu entgehen.
10(-)
Éric Plamondon
Taqawan
Aus dem Französischen von Anne Thomas.
Lenos, 208 Seiten, 22 Euro
Restigouche, Québec. 1981 zerreißen Polizisten die Lachsnetze der Mi’gmaq, die fünfzehnjährige Océane wird vergewaltigt. Zwei Einzelgänger, Ranger Leclerc und Mi’gmaq William, helfen dem Opfer, klären auf und üben Rache. Knapp, aber oho: Essay über weißen Kolonialismus und strukturelle Gewalt – als Krimi.
Die Krimibestenliste, wo kann man sie lesen, wer erstellt sie, wo wird sie veröffentlicht?
WO? außerhalb von WELTEXPRESSO
Die Krimibestenliste auf Deutschlandfunk Kultur
www.deutschlandfunkkultur.de
Die Krimibestenliste erscheint am ersten Sonntag des Monats: www.faz.net
Die zehn besten Kriminalromane der Monate in 2020 sind allerdings nur noch über online verfügbar. In der Vergangenheit veröffentlichte die FAS, die Sonntagszeitung der FAZ, an jedem ersten Sonntag im Monat die jeweilige Liste im Feuilletonteil. Leider gibt es die Liste seit 2020 nur noch im Internet. Ob die FAZ und FAS wissen, welche Einbuße sie damit bei Krimilesern erfahren?
An jedem ersten Sonntag des Monats geben 19 Literaturkritiker und Krimispezialisten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz die Kriminalromane bekannt, die ihnen am besten gefallen haben. Die Krimibestenliste ist eine Kooperation der Frankfurter Allgemeinen mit Deutschlandfunk Kultur.
Die Jury:
Tobias Gohlis, Sprecher der Jury |
Volker Albers, „Hamburger Abendblatt“ |
Andreas Ammer, „Druckfrisch“, BR |
Gunter Blank, „Rolling Stone“ |
Thekla Dannenberg, „Perlentaucher“ |
Hanspeter Eggenberger, „Tages-Anzeiger“ |
Fritz Göttler, „Süddeutsche Zeitung“ |
Jutta Günther, „Radio Bremen Zwei“ |
Sonja Hartl, „Zeilenkino“, „Culturmag“, „Deutschlandfunk Kultur“ |
Hannes Hintermeier, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ |
Peter Körte, „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ |
Alf Mayer, „Culturmag“, „Strandgut“ |
Kolja Mensing, „Deutschlandfunk Kultur“ |
Marcus Müntefering, „Der Spiegel“ |
Ulrich Noller, „Deutschlandfunk Kultur“, „Deutschlandfunk“, SWR, WDR |
Frank Rumpel, SWR |
Ingeborg Sperl, „Der Standard“ |
Sylvia Staude, „Frankfurter Rundschau“ |
Jochen Vogt, „NRZ“, „WAZ“
Foto:
Cover
Info:
Besprechungen der Krimibestenliste im August 2020
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/19706-paradise-city-von-zoe-beck-suhrkamp-auf-platz-1
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/19720-lee-child-mit-der-bluthund-blanvalet-auf-platz-2
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/19742-lauren-wilkinson-american-spy-tropen-verlag-auf-platz-9
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/19708-eine-wahre-freundin-von-william-boyle-polar-auf-platz-4
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/19706-paradise-city-von-zoe-beck-suhrkamp-auf-platz-1
Besprechungen der Krimibestenliste im September 2020
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/19941-morduntersuchungskommission-der-fall-melchior-nikoleit-von-max-annas
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/19940-tommie-goerz-meier-bei-ars-vivendi-auf-platz-9
Besprechungen der Krimibestenliste im Oktober
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20046-auf-platz-1-garry-disher-mit-hope-hill-drive-aus-dem-unionsverlag
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20047-uebersicht-ueber-die-fuenf-neuen
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20071-american-spy-der-bluthund-blues-in-new-iberia-paradise-city-meier
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20072-marcie-rendon-stadt-land-raub-auf-platz-8
Besprechungen der Krimibestenliste im November
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20334-auf-platz-1-geschossen-goetter-und-tiere-von-denise-mina-ariadne
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20335-brandsaetze-von-step-cha-ars-vivendi-auf-platz-9
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20340-nicht-mehr-dabei-london-burning-von-parker-bilal-rowohlt
Bleiben wir bei den Lachsen, bevor der Krimi die Hauptrolle spielt. Ich hätte das nie für möglich gehalten, daß ich zur Fachfrau würde, nein, nicht zum Lachsfang, denn das lese ich höchst ungern, überlese es gewissermaßen, aber Fachfrau zu Lachsen. Denn diese spielen eine eindrucksvolle Nebenrolle im Roman TAQAWAN, der in der kanadischen Provinz Quebec spielt, also an der Ostküste Kanadas; eine genau so eindrucksvolle Nebenrolle haben die Lachse im Film DER BÄR IN MIR dargestellt, genau auf der anderen Seite Kanadas, in Alaska, https://weltexpresso.de/index.php/kino/20169-der-baer-in-mir . Dort sieht man nämlich mit eigenen Augen, was in TAQAWAN beschrieben wird, wie die Lachse nach einem mindestens dreijährigen Leben in den Salzwassermeeren zurückkehren an ihre Laichgründe in den Süßwasserflüssen. Dazu müssen sie die Höhen nach oben bewältigen, also springen, auch Wasserfälle nach oben überwinden. Das geht überhaupt nur, weil ihre Nieren und ihr Organsystem in der Lage ist, sich von Salz- auf Süßwasser umzustellen, was sie ja auch bewältigt hatten, als sie als ungefähr Einjährige von den Laichgründen, den Süßwasserquellen und -flüssen, sich auf den Weg in die Meere gemacht hatten. Bis vier Wochen brauchen sie für die Umstellung ihres Ökosystems, was nicht alle überleben, was dann auch für den Schwund bei ihrer Wasserwanderung nach Hause gilt, denn da oben sind sie selbst einst aus den klebrigen Eiern, die die trächtigen Lachse an Unterwasserpflanen abstreifen/anheften, als Larven geschlüpft. Und dieses Zurückkehren der Lachse an den Ort ihrer Geburt, das nennen die Mi'gmaq TAQAWAN.
Das ist nur eines der spannenden Themen, die in diesem Allroundkrimi eine Rolle spielen, denn abgehandelt würde zu abstrakt klingen, es sind keine aufgesetzten Informationen, sondern sie passen in den Gesamtzusammenhang der Geschichte, um die es natürlich in der Hauptsache geht und die gegen Schluß kräftig Fahrt aufnimmt und zu einem knallarten und aufregenden Krimi wird. Wieviel darf man verraten? Die Krimihandlung ist eingebettet in einen Protest der indigenen Bevölkerung in Quebec, der sich im Jahr 1981 tatsächlich am 11. Juni ereignet hat, als die Polizei in einer brutalen Razzia die Fischernetze der Mi'gmac zerstört, 'verhaftet', also den Fischern wegnimmt, was deren Lebensgrundlage zerstört. Der Grund ist sehr einsichtig und kapitalistisch begründet. Denn die Flußgründe werden wie die Meeresbuchten für gutes Geld an Nordamerikaner zum Fischen vermietet, die an dieser Stelle besonderes kurze Wege in die USA haben. Der Aufstand der Bevölkerung wird brutal niedergeschlafen, einschließlich von Toten. Auf der Brücke haben das einheimische Kinder, die auf dem Heimweg von der Schule sind, beobachtet, auch die fünfzehnjährige Océane.
Das ist aber nur der Hintergrund für den Krimi, in dem sich das junge vergewaltigte Mädchen, das von Leclerc am Fluß im Wald gefunden wird, als diese Océane herausstellt, die von den Eltern vermißt, nun überall gesucht wird. Der Ranger Leclerc ist ein umsichtiger Mann, der sich mit dem älteren William die richtige Hilfe sucht. Denn der lebt nicht wie die anderen Mi'gmaq im Reservat, sondern allein und ist mit allen Wassern gewaschen. Er kann sich mit dem verstörten Mädchen unterhalten und erfährt von ihr, daß sie von drei Polizisten verschleppt und vergewaltigt worden ist. Da wissen die beiden Männer, daß Océane nun erst einmal eine hilfreiche Frau braucht. am besten nicht die Eltern und auch nicht zurück ins Reservat, sondern eine Unterkunft, wo sich Océane berappeln und ihre psychischen Traumate und physischen Verletzungen verarbeiten kann. Da fällt Ives Leclerc sofort seine Ex-Affäre ein, die französische Lehrerin Caroline, die, was üblich ist, ein Jahr im französichsprechenden Teil Kanadas unterrichtet hat und jetzt nach Europa zurückgehen wird. Gesagt, getan. Dort allerdings hat sich seit dem 11. Juni ein Anthropologe namens Pierre eingenistet, nur als Untermieter, der aber sofort auszieht und Platz macht für das niedergeschlagene Mädchen, das durch die Zuwendung von Caroline ihre Sprache und ihren Mut wiederfindet.
Das allerdings ist nur die Vorgeschichte für die Krimihandlung, die nun folgt. Als nämlich Ives und William am nächsten Tag zum Haus der Caroline fahren, finden sie dieses offen, verwüstet - und vor allem leer: beide Frauen sind weg. Was jetzt passiert ist einerseits kreative Detektivarbeit der beiden, die clever, aber auch körperlich knallhart agieren müssen, um Océane und Caroline zu retten, was natürlich mit Blessuren gelingt, aber die Hintergründe, wer und was und warum, das darf hier nicht verraten werden, denn da hat Autor Plamodon wirklich Überraschungen zu bieten.
KRIMIBESTENLISTE NOVEMBER 2020
1(-)
Denise Mina
Götter und Tiere
Aus dem Englischen von Karen Gerwig.
Ariadne im Argument Verlag, 352 Seiten, 21 Euro
Glasgow. Ein Raubüberfall mit Todesopfer, ein alternder Labour-Politiker in Seitensprung-Kalamitäten, Polizisten mit Bergen von Bestechungsgeld, ein moralisch unsicherer Erbe – alles ganz normal. Die Serie um Detective Alex Morrow: das hellwache Porträt einer starken Frau und ihrer chaotischen Stadt.
2(1)
Garry Disher
Hope Hill Drive
Aus dem Englischen von Peter Torberg.
Unionsverlag, 334 Seiten, 22 Euro
„Tiverton“, South Australia. Alles wie immer: Es wird geklaut, gesoffen, geprügelt.Einsame sind einsam. Hirsch, allein auf sehr weiter Flur, ist „freundlicher Dorfpolizist“. Da wird eine Frau erschossen, zwei Kinder fliehen, HauptstadtCops schaffen Chaos. Große Literatur, entstanden aus Kleinem.
3(9)
Un-Su Kim
Heißes Blut
Aus dem Französischen von Sabine Schwenk.
Europa Verlag, 582 Seiten, 24 Euro
Busan 1993. Guam – das ist Tradition, Strand, Verbrechen im Kleinformat. Für Vater Son managt Huisu seit 20 Jahren dort das Hotel und die Deals, einsam und besonnen achtet er die Regeln. Bis ihm Selbständigkeit winkt. Großes Sozial- und Gangsterepos: Neu verdrängt Alt, Globalisierung steigert Gewalt.
4(5)
Joachim B. Schmidt
Kalmann
Diogenes, 352 Seiten, 22 Euro
Raufarhöfn, Island. Kalmann vergisst viel und rechnet schlecht, aber sein Gammelhai ist der zweitbeste in Island. Als er am Arctic Henge eine Blutlache entdeckt,sagt er gleich Bescheid. Hat ein Eisbär Róbert gefressen? Einfühlsame Variante des Topos „behinderter Detektiv“ in grandioser Landschaft.
5(3)
Sara Sligar
Alles, was zu ihr gehört
Aus dem Englischen von Ulrike Brauns.
Hanserblau, 432 Seiten, 16 Euro
„Callinas“, Marin County. „Ob die Narben auf meinen Fotos echt sind?“ Fotografin Miranda Brand hat sich den Kopf weggeschossen – oder doch nicht?Archivarin Kate, weggemobbt, traumatisiert, soll ihren Nachlass für Sohn undKunstwelt erschließen. Psychothriller, Künstlerinnenroman, feines Debüt.
6(-)
Robert Brack
Dammbruch
Ellert & Richter, 240 Seiten, 12 Euro
Hamburg, Februar 1962. Dämme brechen, das Wasser steigt, wer wird überleben?
Tresorknacker Lou will mit Goldschatz nach Kuba. Der junge Piet wird zum Lebensretter. Betty bekämpft ihre bösen Erinnerungen mit der Garotte. Die Fluten reißen alles mit. Mittendrin die kleinen Kämpfe ums Überleben. Echt.
7(8)
Marcie Rendon
Stadt, Land, Raub
Aus dem Englischen von Jonas Jakob.
Ariadne im Argument Verlag, 238 Seiten, 13 Euro
Fargo / Moorhead, etwa 1971. Nachts fährt Cash Rüben und spielt Billard, tagsüber geht sie aufs College, verwundet durch eine Kindheit in Zwangspflegschaft. Prostitution, Akademiker und große Städte lernt die Native American erst richtig kennen, als sie einen Essay-Preis erhält. Großartig.
8(4)
Max Annas
Morduntersuchungskommission.
Der Fall Melchior Nikoleit
Rowohlt, 336 Seiten, 20 Euro
Gera, Jena 1985. Melchior war Bassist einer Punk-Band. Jetzt liegt der 19-Jährige tot im Schuppen. Die Ermittler stöbern in unsozialistischem Familiendreck:Kriegsverbrechen, Diebstahl, Prügel. Freundin Julia erzählt von Aufbruch, Musik,Liebe und Verrat. Hommage an Punk, die Sehnsucht, frei zu sein.
9(2)
Steph Cha
Brandsätze
Aus dem Englischen von Karen Witthuhn.
Ars Vivendi, 336 Seiten, 22 Euro
Los Angeles. 1991 wurde Afroamerikanerin Ava, 15, von der koreanischen Ladenbesitzerin Yvonne erschossen, 2019 wird diese selbst Opfer eines Attentats. Nach einem realen Fall und Mustern en masse erzählt Cha vom Kampf zweier Familien beim persönlichen Versuch, dem Fluch des Rassismus zu entgehen.
10(-)
Éric Plamondon
Taqawan
Aus dem Französischen von Anne Thomas.
Lenos, 208 Seiten, 22 Euro
Restigouche, Québec. 1981 zerreißen Polizisten die Lachsnetze der Mi’gmaq, die fünfzehnjährige Océane wird vergewaltigt. Zwei Einzelgänger, Ranger Leclerc und Mi’gmaq William, helfen dem Opfer, klären auf und üben Rache. Knapp, aber oho: Essay über weißen Kolonialismus und strukturelle Gewalt – als Krimi.
Die Krimibestenliste, wo kann man sie lesen, wer erstellt sie, wo wird sie veröffentlicht?
WO? außerhalb von WELTEXPRESSO
Die Krimibestenliste auf Deutschlandfunk Kultur
www.deutschlandfunkkultur.de
Die Krimibestenliste erscheint am ersten Sonntag des Monats: www.faz.net
Die zehn besten Kriminalromane der Monate in 2020 sind allerdings nur noch über online verfügbar. In der Vergangenheit veröffentlichte die FAS, die Sonntagszeitung der FAZ, an jedem ersten Sonntag im Monat die jeweilige Liste im Feuilletonteil. Leider gibt es die Liste seit 2020 nur noch im Internet. Ob die FAZ und FAS wissen, welche Einbuße sie damit bei Krimilesern erfahren?
An jedem ersten Sonntag des Monats geben 19 Literaturkritiker und Krimispezialisten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz die Kriminalromane bekannt, die ihnen am besten gefallen haben. Die Krimibestenliste ist eine Kooperation der Frankfurter Allgemeinen mit Deutschlandfunk Kultur.
Die Jury:
Tobias Gohlis, Sprecher der Jury |
Volker Albers, „Hamburger Abendblatt“ |
Andreas Ammer, „Druckfrisch“, BR |
Gunter Blank, „Rolling Stone“ |
Thekla Dannenberg, „Perlentaucher“ |
Hanspeter Eggenberger, „Tages-Anzeiger“ |
Fritz Göttler, „Süddeutsche Zeitung“ |
Jutta Günther, „Radio Bremen Zwei“ |
Sonja Hartl, „Zeilenkino“, „Culturmag“, „Deutschlandfunk Kultur“ |
Hannes Hintermeier, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ |
Peter Körte, „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ |
Alf Mayer, „Culturmag“, „Strandgut“ |
Kolja Mensing, „Deutschlandfunk Kultur“ |
Marcus Müntefering, „Der Spiegel“ |
Ulrich Noller, „Deutschlandfunk Kultur“, „Deutschlandfunk“, SWR, WDR |
Frank Rumpel, SWR |
Ingeborg Sperl, „Der Standard“ |
Sylvia Staude, „Frankfurter Rundschau“ |
Jochen Vogt, „NRZ“, „WAZ“
Foto:
Cover
Info:
Besprechungen der Krimibestenliste im August 2020
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/19706-paradise-city-von-zoe-beck-suhrkamp-auf-platz-1
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/19720-lee-child-mit-der-bluthund-blanvalet-auf-platz-2
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/19742-lauren-wilkinson-american-spy-tropen-verlag-auf-platz-9
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/19708-eine-wahre-freundin-von-william-boyle-polar-auf-platz-4
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/19706-paradise-city-von-zoe-beck-suhrkamp-auf-platz-1
Besprechungen der Krimibestenliste im September 2020
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https://weltexpresso.de/index.php/buecher/19940-tommie-goerz-meier-bei-ars-vivendi-auf-platz-9
Besprechungen der Krimibestenliste im Oktober
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20046-auf-platz-1-garry-disher-mit-hope-hill-drive-aus-dem-unionsverlag
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20047-uebersicht-ueber-die-fuenf-neuen
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https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20072-marcie-rendon-stadt-land-raub-auf-platz-8
Besprechungen der Krimibestenliste im November
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20334-auf-platz-1-geschossen-goetter-und-tiere-von-denise-mina-ariadne
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20335-brandsaetze-von-step-cha-ars-vivendi-auf-platz-9
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20340-nicht-mehr-dabei-london-burning-von-parker-bilal-rowohlt