annette hessSerie: Auf die Schnelle: Gute Unterhaltungsliteratur, gebraucht, Teil 6

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Als ich dies Buch las, hatte ich dauernd Bilder vor Augen, die alle einen Hintergrund hatten: den Film Im Labyrinth von Giulio Ricciarelli, einen Film aus dem Jahr 2014, den ich im Nachhinein viel besser finde, als beim ersten Schauen, was sicher auch damit zu tun hatte, daß spätere Filme über Fritz Bauer unsagbar peinlich wurden, aber, so ist das bei uns in Deutschland, den größeren Erfolg hatten.

Im Labyrinth des Schweigens nämlich finden sich all die Personen, die im Deutsches Haus eine Rolle spielen, was ja kein Wunder ist, denn die Auschwitzprozesse, die der Hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer mit Unterstützung des Hessischen Ministerpräsidenten Georg- August Zinn, SPD (Hessen vorn) ab 1963 durchführte und von denen leider die Deutschen meist nur den ersten kennen, immerhin!, bilden den Hintergrund dieses Romans, in dem, ich sage es noch mal, auch die anderen Personen für mich die Gesichter aus dem Film annahmen und vor allem deren Kleidung trugen und deren Musik hörten – und Rock'n Roll tanzten.

Das zeigt ja zweierlei. Daß es Annette Hess gelungen ist, die Atmosphäre der damaligen Zeit aufs Papier zu bringen, aber auch, daß wir Leser und Leserinnen nicht so viele Anknüpfungspunkte haben, die Zeit um 1963 auch tatsächlich vor Augen zu haben, sie zu fühlen, zu imaginieren. Da sind Nachkriegsbilder oder die der Fünfziger mit dem VW vorm kleinen Häuschen und dem Urlaub in Italien, die Kriegsbilder oder die aus dem Dritten Reich mit Beflaggung und erhobenem Hitlergruß, visuell deutlicher. Annette Hess ist übrigens die, die Drehbücher zu den wirklich erfolgreichen und in meinen Augen auch guten, weil geschichtlich korrekten Fernsehserien von WEISSENSEE und KU'DAMM 56, 59 und 63 geschrieben hat, die hier ihren ersten Roman vorlegt, der des Themas wegen – vermuten wir mal – vor zwei Jahren sofort, also vor dem Erscheinen, in 14 andere Länder verkauft worden war.

Wir sind im Jahr 1963 in Frankfurt am Main. Eva ist die Tochter der Betreiber des DEUTSCHES HAUS, einer beliebten Gaststätte. Sie ist so gut wie verlobt, ihr Leben ist voraussehbar: Heirat, Kinder...Da wird sie, die ausbildete Dolmetscherin gebeten, bei einem Prozeß die Aussagen der Zeugen zu übersetzen. Das ist sonst bei Prozessen ein schneller Akt. Hier aber geht es um den Auschwitz Prozeß, den der Hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer vorbereitet hatte. Eva hatte überhaupt noch nie von einem Ort namens Auschwitz gehört. Das ging den meisten so im Jahr 1963, was man heute kaum mehr glauben mag, aber eines Besseren belehrt wird, wenn man Meinungsumfragen hört, wie vielen auch heute noch der Begriff AUSCHWITZ nichts sagt.

Was beim Lesen auffällt, das ist, wie detailliert die Autorin die Szenerie beschreibt. Da glaubt man die erfahrene Drehbuchschreiberin zu erkennen, die immer die Details, den Ort, die Zeit, den Anlaß, den Prozeß zu beschreiben: es fährt, es öffnet sich, ...immer wieder zeigen Verben des Geschehens den Verlauf aus, wobei wir jetzt nicht vom Gericht sprechen, sondern vom Vergehen der Zeit durch Handlungen. Daß auch die direkte Rede eine große Rolle spielt, versteht sich,denn auch das sind dramaturgische Mittel, den Leser direkt dabei sein zu lassen.

Man bekommt Sympathie für Eva, die erst ja gar nicht einmal politisch, schon gar nicht aufsässig ist, sondern nur tun will, wofür sie lange gelernt hat: übersetzen. Und so findet sie die Kraft, die man damals schon brauchte, um sich gegen die Eltern und auch den Zukünftigen zur Wehr, das heißt durchzusetzen. Sie nimmt den Übersetzerposten an und weiß damit noch nicht, daß sie das Sprachrohr für das Grauen werden wird, was ab 1963 in den Auschwitzprozessen zumindest den Deutschen, die zuhörten, die Welt für immer als einen anderen, einen schrecklichen Ort erleben ließen.

Von heute her kann mich sich kaum mehr vorstellen, daß junge Deutsche nichts von Auschwitz wußten, aber so war es. Und heute, wo wir eine Fülle von Auschwitz- oder anderen KZ-Filmen kennen, kann man sich das Erschrecken und auch das Nicht-Hören- und -Sehen- Wollen kaum mehr vorstellen. Wie im Film DAS LABYRINTH legt auch das Buch den Wert auf die vielen Menschen, Überlebende, aber auch Gezeichnete, die es auf sich nehmen, aus aller Welt, Israel, den USA, Frankreich, vor allem aus Polen, Ungarn und Griechenland nach Frankfurt, in das Land ihrer Peiniger zurückzukehren, deren Aussagen in der Sprache ihrer Folterer hören zu müssen und was die Angeklagten angeht, in deren teils grinsende Visagen blicken zu müssen.

Beim Lesen erfaßt einen dasselbe Gefühl, das man aus den Zeugenaussagen kennt, die 150 Tonbandprotokolle, die man im Internet anhören kann, von den Zeugen aus Auschwitz vor dem Frankfurter Gericht, die oft monoton, mit leiser Stimme von den Untaten, die ja Taten, schreckliches unmenschliches Tun dokumentieren, von den kleinen Gemeinheiten bis zum Umbringen so vieler Menschen durch die XYZ, denn die Täter werden oft als gute Familienväter geschildert und waren es wohl auch im Sinn ihrer Familie.

Dadurch, daß wir die Entwicklung dieser Eva verfolgen, bietet uns Annette Hess einen Rahmen, in dem die schrecklichen Geschehen zu Fleisch und Blut werden, weil einzelne Zeugen vor Gericht ihre Geschichte erzählen,was Eva übersetzt, und auch meist die Angeklagten eindeutig identifizieren klönen. Es kann gut sein, daß solch ein Buch eine neue Öffentlichkeit findet, Leser und Leserinnen, die nicht von sich aus zu den heute gut einsehbaren Dokumenten, den Videos, Filmen und Büchern finden.

Es wäre aber schön, wenn sich die, die DEUTSCHES HAUS lasen, dann auch interessierten für folgende Informationen, und noch schöner, wenn diese am Schluß im Buch oder in der Schlußbemerkung der Autorin gestanden hätten. So dankt die Autorin den Mitarbeitern des Fritz Bauer Instituts, dessen Archiv und Materialien, aus denen sie die wortwörtlichen Zitate einzelner Prozeßteilnehmerinnen und -teilnehmer verwendet hatte.

P.S.
Wie gesagt, gut, daß das Buch da ist, noch besser, wenn die Leser sich weiterinformieren. Über den Auschwitzprozeß gibt es heute eine Menge authentisches Material. Die Fülle an Büchern können wir nicht aufführen. Über den, der ihn möglich machte, Fritz Bauer, ist TOD AUF RATEN, der Film von Ilona Ziok, der einsichtigste, weil er die Person, seine Überzeugungen und Taten durch eigene Aussagen und Kommentare derer, die ihn kannten, für uns lebendig macht. Was DVD Material angeht, finden wir beachtlich, was absolut medien produziert, Filme und Dokumente, auch über Auschwitz, unter dem Stichwort: Zeitgeschichte/Nazis bei https://absolutmedien.de/


Foto:
Cover

Info:
Annette Hess, Deutsches Haus, Ullstein Verlag,
ISBN 978 3 550 05024-4

Stefanie Gregg, Nebelkinder, Aufbau Taschenbuch 3592
ISBN978-3-7466 3592-7