nebelkinderSerie: Auf die Schnelle: Gute Unterhaltungsliteratur, gebraucht, Teil 5

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Das soll uns nicht wieder so gehen, daß aus einer Vorbemerkung ein ganzer Artikel wird, nur weil wir versuchen, zwei Bücher in den selben Rahmen zu pressen, der eben weithin die Deutsche Geschichte, also die deutsche Nachkriegsgeschichte ist – im Westen, das muß man hinzufügen.

NEBELKINDER VON Stefanie Gregg

Ist das ein neuer Begriff aus der Psychologie: Nebelkinder? Oder trägt dieser Roman dazu bei, daß sie so genannt wird, die zweieinhalbte Generation nach der Kriege in Deutschland. In Israel spricht man völlig selbstverständlich von der ersten, zweiten, dritten, jetzt schon vierten Generation und meint damit diejenigen, die das Wüten und Morden der Nazis überlebt hatten, deren Kinder, dann wieder deren Kinder, die jetzt, je nach Alter die vierte Generation in die Welt setzen. In Deutschland spricht man von der Kriegsgeneration und der Nachkriegsgeneration, sehr viel später von Generation Golf und Generation X oder den NullerJahren, ich selbst denke und schreibe den Jahrzehnten nach, also die seit den 50er Jahren sich ständig veränderten und verändernden 60er, 70er..., die alle ein eigenes kulturgeschichtliches Gesicht hatten, vom Haarschnitt über die Kleidung, die Lektüre, die Musik. Heute ist das schon lange verwischt, eine Zuordnung ist viel schwieriger geworden. Man sieht nur deutlich: vor Corona oder heute. Stand Dezember 2020

Aber damit wir endlich zum Buch kommen, ist das eindringlichste Lob, das ich aussprechen kann, das, daß es mich zum Nachdenken über so vieles gebracht hat, was sonst angesichts von den ständigen Herausforderungen des Lebens, sprich, vor allem Arbeit, zu kurz kommt: nämlich die Frage, nach den anderen Menschen in der eigenen Gesellschaft, hier: wie es anderen in der Nachkriegszeit und danach gegangen ist. Und da ist NEBELKIND ein gut verständliches, gleichwohl variantenreiches Wort, daß ein Kind nämlich im Nebel stochert, wenn es nach dem früher fragt oder auch Nebel als Antwort bekommt, wenn es so fragt, oder auch selbst im Nebel lebt, weil es nie fragt, das Kind. Da sind wir dann bei Lilith und der Jetztzeit, also der dritten Generation imJahr 2017. Lilith ist kein Kind mehr, sondern jetzt selbst erwachsen, fühlt sich selbständig und selbstverständlich auch. Welch schönes Wort eigentlich: selbstverständlich. Kaum etwas ist selbstverständlich, darum benutzen wir es wohl so oft, damit wir uns keine Gedanken machen muß. So geht es Lilith.

Die hat die Gefühlskälte der Mutter Ana, die Anastasia heißt, und bei der Flucht von Schlesien nach Bayern 13 Jahre alt war, zwar gespürt, aber auch deren Druck, für die Familie aufkommen zu müssen, denn die Oma Käthe hat die Flucht gewissermaßen paralysiert. Und das ist sicher einer der Vorzüge dieses Romans, daß er nicht Floskeln, also entkernte Begriffe, hohle, leere Wort wie Flüchtlingszug benutzt, sondern schildert, wie es zuging in solchen Zügen, zwischen den Männern und den Frauen, zwischen den Schlauen, Selbstsüchtigen und denen, die sich als Teil einer Gemeinschaft fühlten und damit schon verloren hatten.

Lilith, die „Sammlerin der Augenblicke“, wie sie der Große Geliebte Robert, deshalb groß, weil die Gelegenheiten klein sind, mit ihm zu sein, auf Seite 28 nennt, als sie sich nach sieben Jahren vor einem Bild von Manet im Museum wiedersehen – Aua, sooo schön gesagt, das mit dem Sammeln der Augenblicke, was auf die Impressionisten gemünzt ist, die den Augenblick des Lichts, wie er nie wieder sein wird, malerisch wiedergeben, nur: Manet ist mitnichten ein Impressionist, wird leider immer wieder für einen gehalten – also, Lilith kommt ja erst dazu, den Rückblick zu wagen, sich gezwungen zu sehen, die Vergangenheit, die eben niemals vergangen ist, ‚aufzuarbeiten‘, wie ein Begriff aus der Psychologie inzwischen im Allgemeindeutschen sagt, als Robert sie um etwas bittet, was so ungeheuerlich ist, wie es sich anhört und trotzdem etwas ist, das zeigen wird, ob Lilith menschliches Format hat oder nicht. Denn der seit 10 Jahren verheiratete Robert, der ihr die große Liebe schwor und gerne immer wieder darauf zurückkommt, bittet sie um die Kleinigkeit, sich um Aaron zu kümmern, den Dreizehnjährigen bei sich aufzunehmen. Aaron ist sein Sohn, aber nicht aus seiner Ehe. Die Mutter ist bei einem Autounfall in Chile, wohin sie mit Kind gegangen war, gestorben. Er hatte den Jungen, den er seit dem sechsten Lebensjahr nicht mehr gesehen hatte, bei sich aufgenommen, aber dieser ist unglücklich und renitent, als ob er merkt, daß Roberts Ehefrau ihn haßt.

Ob dieser Zumutung und der zusätzlichen Erpressung, daß Aaron ansonsten ins Heim käme, ist Liliths entschiedenen Nein, verständlich. Doch dann – das ist wirklich raffiniert konstruiert – gibt ihr Robert den Rest. „ Er ist der Sohn von Frederike. Du bist seine Taufpatin. Sie war deine beste Freundin. Sie schämte sich so sehr über diese eine Nacht mit mir, daß sie es dir nie gesagt hat.“(32)

Ehrlich gesagt, kann die Autorin mit ihrem nun wirklich tragisch-dramatischen Plot nicht immer verantwortlich umgehen. Damit meinen wir nur die sprachliche Ebene, die so viele Gefühlsworte und pathetische Darstellungen nicht gebraucht hätte, weil die Geschichte selbst überzeugt: Wie Lilith damit umgeht, ob und wie sie mit Aaron klar kommt, ist zwar die Ausgangsfrage, aber – und da wiederum ist die Autorin menschenklug – Lilith muß erst ihre eigene Vergangenheit klären, bis sie weiß, was sie will. Dann tut sie es.

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Cover

Info:
Stefanie Gregg, Nebelkinder, Aufbau Taschenbuch 3592,
ISBN978-3-7466 3592-7

Annette Hess, Deutsches Haus, Ullstein Verlag,
ISBN 978 3 550 05024-4