Serie: DIE KRIMIBESTENLISTE im Januar 2021 , Teil 2
Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Ich kann mich nur wiederholen: die eigentlichen Gesellschaftsromane, also die Romane, die die Strukturen und Wirkmechanismen einer Gesellschaft bloßlegen, im Guten wie im Schlechten, sind heute Kriminalromane, während der belletristische Roman sich hauptsächlich um die Selbstsicht einer Person oder die Binnenbeziehungen von Paaren oder Familien dreht.
Diese Aussage ist sozusagen ein alter Hut und man kann sie seit vielen Jahren, ja Jahrzehnten festmachen, in den USA anknüpfend an die großen Namen des Krimi Noir mit den hardboiled detective wie Dashiell Hammett oder Raymond Chandler, die heute in den USA, Australien und Südafrika fortgesetzt werden, in Europa an dem epochemachenden Werk von zehn Bänden, dem schwedischen Autorenpaar Maj Sjöwall und Per Wahlöö,, die den sozialkritischen Kriminalroman konstituierten, bis heute in Skandinavien noch stärker als bei uns favorisiert, was Stieg Larsson in Richtung Industrie und Finanzkapital fortführte, aber sein früher Tod beendete – und auch niemand trotz Amazon, Google, Mircrosoft etc. weiterführt.
Inzwischen hat der Kriminalroman aber noch ein weiteres Feld erobert: die Geschichte. Wir sprechen nicht von den netten Krimis aus der Römer- oder Keltenzeit, dem Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert, ob in Venedig oder sonstwo, sondern wir sprechen von heute, einschließlich der Zeitgeschichte. Und längst gehört wie gerade in TAQAWAN von Eric Plamondon (im Dezember auf Platz 6 der Liste) aufgezeigt, Anthropologie, Ethnologie und Kolonialgeschichte dazu, weil sie erklären, wie die jeweiligen Gesellschaften geworden sind, wie sie sind.
Wer Marseille.73 liest, wird nie wieder fragen, warum politische Attentate in Frankreich eine besondere Häufung erfahren. Wer Marseille.73 liest, wird vor der Autorin Dominique Manotti den Hut noch tiefer ziehen, als es schon bisher bei uns angesichts ihres phänomenalen Werks der Fall war. Und wir können überhaupt nicht verstehen, warum die diesjährige Jury, die jährlich die besten internationalen Kriminalromane in Deutschland auszeichnet, an ihr dieses Jahr vorbeiging. Aufgefallen war sie uns vor vielen Jahren, als uns ihre Wirtschaftskrimis eine uns weithin unsichtbare und unbekannte Welt erschlossen. Das war schon stark. Was sie nun mit kkk - kurzen, klaren, kühlen - Sätzen, aber sehr vielen Personen, Worten, Taten auf 381 Seiten sowie einem dringend vor dem Lesen aufzunehmenden Anhang bietet, ist, als ob einen eine Zeitmaschine zurückkatapultiert ins Jahr 1973 nach Marseilles, als in Frankreich der vom 1. November 1954 bis 19. März 1962 währende Algerienkrieg schon elf Jahre vorbei ist, aber mit anderen Vorzeichen immer noch währt. Offiziell war es ein Waffenstillstand, inoffiziell hatte Frankreich verloren und die rund 1, 4 Millionen Algerienfranzosen mußten heim ins Reich/Mutterland, wo sie nur noch normale Bürger waren, ohne Kolonialistenpfründe, die sogenannten Pied-Noir, die seit 1830 Algerien besetzt und ausgeplündert hatten.
Gleichzeitig gab es aber schon lange in Frankreich ein Lumpenproletariat aus arbeitssuchenden Algeriern und es gab einen Mittelstand von in Frankreich naturalisierten Algeriern, ohne die die Wirtschaft in den Zentren und eben auch der Hafen und die Stadt Marseilles zusammengebrochen wären. In diese Gemengelage taucht uns Dominique Manotti ein und man findet nur heraus, wenn man ihr willig folgt, was anzuraten ist, denn dann hebt man einen Schatz für‘s Leben, wo man doch dachte, daß man über die Geschichte der Zeit einschließlich der Kolonialgeschichte schon alles wüßte. Erschreckend auch die Korrespondenz zum Heute. Als ob die französische Politik und die französische Gesellschaft aus den 60/70er Jahren nichts gelernt hätte.
Unmöglich, die vielen Personen, Verbrecher wie Polizisten, und unter denen diejenigen, wo Krimineller und Kriminaler in einer Person zusammenfallen, und auch die Untaten im Detail aufzuführen und erst recht unmöglich, die ganze französische Polizeiorganisation im Einzelnen aufzudröseln. Sinnvoll ist, aber nicht unabdingbar, den Vorläufer zu kennen, SCHWARZES GOLD, 2016 veröffentlicht, wo der junge Kriminalkommissar Théo Daquin den Mord an einem Unternehmer, der in dubiose Erdölgeschäfte verwickelt war, aufklärte. Nun geht es um den 16jährigen Berufsschüler Malek, der einer algerischen Einwanderungsfamilie entstammt und aus einem fahrenden Auto erschossen wird, als er an der Mauer eines Cafes steht, einfach so, was man für einen rassistischen Mord halten muß. Zwar hat Daquin weiterhin die Probleme, daß ihn die hiesigen, überwiegend homophoben und fremdenfeindlichen Kollegen als Pariser Schnösel möglichst ignorieren, aber seine Mitarbeiter, zwei Inspektoren haben den richtigen Stallgeruch, was hilft. Denn wir werden nun an einer, auch intellektuell rasanten Aufklärung beteiligt.
Manotti schreibt auch einen Polizeiroman, wobei wir hier auf die Aufdröselungen der verschiedenen Einrichtungen verzichten, nur das Wichtigste: die Police Urbaine, zu der auch die Sûreté urbaine, die Sicherheitspolizei gehört und die Kriminalpolizei, die sich beide gegenseitig Konkurrenz machen, was Staatsanwalt und dann der Untersuchungsrichter durch Beauftragung des einen oder anderen mitdem jeweiligen Fall klären. Beide Einrichtungen hatten auf jeden Fall beide genug zu tun, denn im Nachwort lesen wir von ca. 15 Toten in Marseille und in Frankreich 50 Toten, die im gleichen Jahr ermordet wurden. Das Problem ist nur, daß ein Großteil der Marseiller Polizei selbst so rassistisch ist, daß sie eher den Mord begrüßen, als ihn klären zu wollen. Schlimmer noch, sie sind nicht nur rassistisch und drücken alle Augen zu, sondern machen in einer polizeilichen Verschwörungsgruppe gemeinsame Sache mit den oben genannten Pied-Noir. Das wäre so, wie wenn, nein, das ist so wie das Verschwörungsteam im Polizeirevier 1 in Frankfurt am Main, die die Daten der von rechten Terroristen bedrohten Personen aus dem Polizeicomputer abrufen und weitergeben.
Mehr wollen wir hier nicht verraten, nur das eine: Der Krimi ist zwar historisch angelegt, aber man glaubt, sich bei den Äußerungen und Taten im Heute zu befinden. Und ist es ideell auch.
Fortsetzung folgt
DIE KRIMIBESTENLISTE JANUAR
1 (–) Candice Fox: Dark
Aus dem Englischen von
Andrea O’Brien.
Suhrkamp, 394 Seiten, 15,95 Euro
Los Angeles. Irgendwo ist die Beute von einem Bankraub versteckt. Aber das spielt
erstmal keine Rolle, denn die Tochter der Diebin Sneak ist verschwunden. Vier
Frauen, eine Ärztin und verurteilte Mörderin, eine Detective, eine Gangsterin und
die Mutter suchen sie. Im Dunkel des Sunshine State. Rabiat.
2 (2) Dominique Manotti: Marseille 73
Aus dem Französischen von Iris Konopik.
Ariadne im Argument Verlag,
400 Seiten, 23 Euro
Als ein verrückter Araber einen Busfahrer ersticht, legen die Fremdenhasser los.
Malek, 16, Berufsschüler, wird niedergeschossen. Commissaire Daquin und sein
Team agieren taktisch klug, fast allein gegen Ausländerhass, Mordwut, Verlustangst,
Rassisten im Apparat. All das gab es schon in Marseille 1973.
3 (1) Denise Mina: Götter und Tiere
Aus dem Englischen von Karen Gerwig.
Ariadne im Argument Verlag,
352 Seiten, 21 Euro
Glasgow. Ein Raubüberfall mit Todesopfer, ein alternder Labour-Politiker in Seitensprung-Kalamitäten, Polizisten mit Bergen von Bestechungsgeld, ein moralisch
unsicherer Erbe – alles ganz normal. Die Serie um Detective Alex Morrow: das hellwache Porträt einer starken Frau und ihrer chaotischen Stadt.
4 (–) Tim MacGabhann:
Der erste Tote
Aus dem Englischen von Conny Lösch.
Suhrkamp, 274 Seiten, 15,95 Euro
Poza Rica, Mexiko. Blutiges Erdöl. Der irische Journalist Andrew und der Fotograf
Carlos stolpern über einen massakrierten Öko-Aktivisten. Als auch Carlos ermordet
wird – von einem Polizisten –, überwindet Andrew seine Angst und recherchiert:
Staat & US-Konzerne vereint gegen Natur und Indigene.
5 (–) Robert Galbraith: Böses Blut
Aus dem Englischen von Wulf Bergner,
Christoph Göhler, Kristof Kurz.
Blanvalet, 1194 Seiten, 26 Euro
London, England. Strike und Robin haben einen Cold Case: Vor 40 Jahren verschwand eine Ärztin.
Ein Serienmörder ist verdächtig, jetzt will die Tochter Wahrheit. Ergebnis wie Lösungsweg können Vorurteile Hegenden
nicht gefallen. Galbraith seziert Beziehungszwänge. Gekonnt weitschweifige Bösartigkeit.
6 (–) Samantha Harvey:
Westwind
Aus dem Englischen von Steffen Jacobs.
Atrium, 382 Seiten, 22 Euro
„Oakham“, Somerset 1491. Der reichste Mann des ärmsten Dorfes ist tot, der Dekan
steckt seine Nase in alle Ritzen, Pfarrer John Reve möchte nicht „Richter und
Sheriff“ zugleich sein. Als ließe sich die Zeit zurückdrehen, erzählt Reves Ich vier
Tage rückwärts: Scham, (geistige) Armut, Lügen.
7 (4) Mick Herron: Real Tigers
Aus dem Englischen von
Stefanie Schäfer.
Diogenes, 480 Seiten, 18 Euro
London. Ein angeheuertes „Tiger-Team“ greift testhalber den Geheimdienst MI5
an. So der trickreiche Plan. Was aber, wenn die Tiger real sind? Jackson Lambs
Agenten, eigentlich auf dem Abschiebegleis, zeigen, was sie draufhaben. Halsbrecherische Satire auf die eitle Upper Class und ihre Spy-Bürokratie.
8 (–) Nicci French: Eine bittere Wahrheit
Aus dem Englischen von
Birgit Moosmüller.
C. Bertelsmann, 506 Seiten, 16 Euro
„Okeham“, England. Tabitha ist in das Dorf ihrer Jugend zurückgekehrt, hat den
Lehrer von damals tot im Schuppen gefunden und sitzt jetzt unter Mordanklage in
Untersuchungshaft: depressiv, von Medikamenten benebelt, sich selbst verteidigend
ohne Beistand. Psychologisch fein, leise Spannung.
9 (–) Iva Procházková: Die Residentur
Aus dem Tschechischen von
Mirko Kraetsch.
Braumüller, 573 Seiten, 24 Euro
Prag. Junge Tschechen im Widerstand gegen Eltern und Subordination unter Großrussland, bewaffnet für die Unabhängigkeit der Ex-Sowjetrepublik „Kasmenien“.
Mischung aus Familien-, Gesellschafts- und Spionageroman mit satirischen Pfeilen
in alle Richtungen, besonders gegen postsowjetische Duckmäuserei.
10 (–) David Whish-Wilson:
Das große Aufräumen
Aus dem Englischen von Sven Koch.
Suhrkamp, 327 Seiten, 10 Euro
Perth 1983. Ex-Superintendent Swann, jetzt Privatdetektiv, soll dem neuen Premier
die unsauberen Wege ebnen. Mit und gegen Bikerclubs, korrupte Polizeibanden,
lokale Gangster, Baulöwen und Spindoctors. Swann verfolgt seine eigene Agenda:
treu, mit leichten Skrupeln, kompromisslos clever und rau.
Die Krimibestenliste, wo kann man sie lesen, wer erstellt sie, wo wird sie veröffentlicht?
WO? außerhalb von WELTEXPRESSO
Die Krimibestenliste auf Deutschlandfunk Kultur
www.deutschlandfunkkultur.de
Die Krimibestenliste erscheint nicht mehr am ersten Sonntag des Monats: www.faz.net
Die zehn besten Kriminalromane der Monate in 2021 sind allerdings noch nicht einmal über online verfügbar. In der Vergangenheit veröffentlichte die FAS, die Sonntagszeitung der FAZ, an jedem ersten Sonntag im Monat die jeweilige Liste im Feuilletonteil. Leider gibt es die Liste ab 2021 noch nicht einmal im FAZ-Internet. Ob die FAZ und FAS wissen, welche Einbuße sie damit bei Krimilesern erfahren? Da muß man froh sein, daß der Deutschlandfunk Kultur die Kriminalromane als anspruchsvolles Genre noch nicht aufgegeben hat, sondern weiterhin jeden ersten Freitag im Monat die neue Liste bringt, die wir sobald wir können, nachdrucken.
An jedem ersten Freitag des Monats geben also 19 Literaturkritiker und Krimispezialisten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz die Kriminalromane bekannt, die ihnen am besten gefallen haben. Die Krimibestenliste war nach demeine Kooperation der Frankfurter Allgemeinen mit Deutschlandfunk Kultur, der Sender, der nun die Krimibestenliste alleine veröffentlicht und trägt. Das wäre schon für die Regierungskoalition in Sachsen-Anhalt ein Argument, den Rundfunkgebühren zuzustimmen.
Die Jury:
Tobias Gohlis, Sprecher der Jury |
Volker Albers, „Hamburger Abendblatt“ |
Andreas Ammer, „Druckfrisch“, BR |
Gunter Blank, „Rolling Stone“ |
Thekla Dannenberg, „Perlentaucher“ |
Hanspeter Eggenberger, „Tages-Anzeiger“ |
Fritz Göttler, „Süddeutsche Zeitung“ |
Jutta Günther, „Radio Bremen Zwei“ |
Sonja Hartl, „Zeilenkino“, „Culturmag“, „Deutschlandfunk Kultur“ |
Hannes Hintermeier, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ |
Peter Körte, „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ |
Alf Mayer, „Culturmag“, „Strandgut“ |
Kolja Mensing, „Deutschlandfunk Kultur“ |
Marcus Müntefering, „Der Spiegel“ |
Ulrich Noller, „Deutschlandfunk Kultur“, „Deutschlandfunk“, SWR, WDR |
Frank Rumpel, SWR |
Ingeborg Sperl, „Der Standard“ |
Sylvia Staude, „Frankfurter Rundschau“ |
Jochen Vogt, „NRZ“, „WAZ“
Foto:
Cover
Info:
Besprechungen der Krimibestenliste im Dezember 2020
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20678-goetter-und-tiere-von-denise-mina-von-ariadne-weiterhin-auf-platz-
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20679-platz-6-eric-plamondon-mit-taqawan-aus-dem-lenos-verlag
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20680-platz-1-denise-mina-goetter-und-tiere-ariadne-im-argument-verlag
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20735-die-guten-krimis-von-gestern-annas-rendon-steph-cha-u-a
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20733-real-tigers-von-mick-herron-von-diogenes-auf-platz-4
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20894-platz-9-und-10-ungewoehnliche-amerikanische-verbrecher-damals-1919-und-heute
Besprechungen der Krimibestenliste im Januar 2021
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20958-dark-von-candice-fox-von-suhrkamp-auf-platz-1
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20962-dominique-manotti-mit-marseille-73-von-ariadne-bleibt-auf-platz-2