Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Jetzt weiß die Leserin/Hörerin fast alles, auf jeden Fall sehr viel mehr als die drei Freunde, die von dem unaufhörlichen Mißbrauch des kleinen Jude als Kind auch später als Jugendlicher keine Ahnung haben. Ab jetzt wird es den ganzen weiteren Roman hindurch nur noch um Jude gehen und seiner Unmöglichkeit, die Beschmutzung und den Selbsthaß, die er fühlt, auszulöschen und ein Mensch zu werden, der das Glück, das er eigentlich hat, von vielen Menschen und vor allem dem einen, den er liebt, geliebt zu werden, zuzulassen, zu spüren oder gar zu genießen.
und beruflich extrem erfolgreich zu sein, reich zu werden, mit einem, der eigentlich platonischen Freunde, eine sexuelle Beziehung einzugehen, mit ihm zusammenzuleben, aber ihn nicht körperlich lieben zu können, weil erstens die Belastungen der Päderastie ihm Ekel verursacht und er zweitens mit dem einzigen Mann, mit dem er als Erwachsener zuvor eine Beziehung einging, einem Schwarzen, exzessive Gewalt und wirklich tiefe Demütigung erfuhr.
Das Entscheidende aber ist im Verlauf dieser wirklich entsetzlichen Geschichte, die Unfähigkeit - die, auch, wenn man sie verstehen kann, trotzdem lähmend ist – die Unfähigkeit also, all das Glück, das Jude im Leben stärker als andere Menschen erfährt, auch leben zu können. Denn zum Glück gehört auch, daß er in seinem Studium seinem Jura-Professor Harold, der zusammen mit seiner Frau einen Sohn verloren hatte, so gut gefallen hat, daß er ihn in die Familie einlädt und das Ganze so ausgeht, daß beide ihn adoptieren, er also jetzt Eltern hat, zwei Professoren. Zum Glück gehört auch, daß aus der Freundschaft zum schönen Willem Liebe wird und er mit ihm durch die Welt kommt und ununterbrochen kulturelle Höhepunkt erlebt. Aber auch an einen Arzt wie Andy zu geraten, der zu jeder Tages- und Nachtzeit alles für ihn tut, ohne ihn je im Stich zu lassen, ist ein großes Glück . Das kann man als Leser ebenfalls nicht immer aushalten, so viel Verständnis von der Seite von Willem, Harold sowie Andy und so viel Liebe. Zu seinem dann doch übertriebenen Glück im Leben gehört auch, daß überhaupt jeder ihn liebt, er ist bewundert im Beruf und geliebt von allen, die mit ihm zu tun haben – aber er kann es nicht genießen. Er ist für immer unfähig, die Vergangenheit hinter sich zu lassen. „Es geht übel aus“, sagt schon eine Kleinbürgerweisheit, weshalb gilt: „Nicht so hoch hinaus“. Das alles hat Jude verinnerlicht.
Als Hörerin weiß man schon lange nicht mehr, warum man sich das antut, die Schmerzen des Jude sich anhören zu müssen. Überall Schmerzen, körperliche, seelische. Schon lange hat sich in der Leserin eine Abwehr aufgebaut, sie hört zwar genau zu, ist aber schon längst gegen den Roman eingestellt, der in seiner Schmerzspirale immer weiter geht und überhaupt keinen Ausweg läßt, weil er derart Schwarz-Weiß malt, daß es nicht zum Aushalten ist. Das wird auf einmal zum Schmerzkitsch. Nichts ist normal. Alles ist übertrieben. Die Armut genauso wie der Reichtum, dieser Reichtum ärgert einem besonders, weil jeder der Beteiligten immer nur nach ‚oben‘ strebt und alles mit Geld, Ehre und Rum vergolten bekommt, die Freundschaft, jeder macht alles für den anderen, selbst die Feindschaft ist extrem. Das psychische Elend des Jude: extrem. Irgendwann glaubt man einfach der Autorin nicht mehr. Das kommt einem auf einmal total konstruiert vor, ein unechtes Leben, kein Leben.
Das bezieht sich auf den Inhalt, aber auch formal ist der Roman von ständigen Ungleichgewichten beschwert. Er springt, er führt ein, aber nicht aus, er läßt Personen wie den Adoptivvater, den Professor, einfach liegen, holt ihn dann aus der Versenkung, das ist so willkürlich und regt ab irgendwann in der Hörerin Widerstand, wo doch Empathie am Platze wäre. Das aber ärgert dann die Hörende erst recht, denn er tut ihr ja leid, dieser Jude, aber.... Aber leid tuen einem auch die, die auf der erzählerischen Strecke geblieben sind. Warum erfahren wir nicht mehr über diesen Malcom? Der ist nur zur Stelle, wenn es um das Haus geht, das er für Jude und Willem bauen soll und will. Aber gerade er als Schwarzer aus reichem und gebildetem Haus – was man anfangs gut fand, daß mal nicht der halbkriminelle Schwarze aus dürftigen Verhältnissen eine Rolle spielt, was man inzwischen genauso öde findet, weil nichts darauf gemacht wird – wäre doch eine interessante Romanfigur gewesen. Doch die Perspektive, daß letzten Endes alles nur um die Tragödie des Jude geht, der aus lauter Selbsthaß durch die an ihm verübten Verbrechen nicht leben kann, verhindert, daß aus den einzelnen Personen Menschen werden.
Über die Autorin
Hanya Yanagihara Yanagihara wuchs in Hawaii auf, wo schon ihr Vater japanischer Abstammung geboren wurde. Ihre Mutter kam in Südkorea zur Welt, wuchs aber in Hawai auf. Der erste Roman The People in the Trees (dt. Das Volk der Bäume) erschien 2013 . Er handelt vom Leben und den Missbrauchsskandal um den US-amerikanischen Virologen und Nobelpreisträger Daniel Carleton Gajdusek. Aber erst als sie 2015 ihren zweiten, diesen Roman A Little Life veröffentlichte, der international ein Erfolg wurde, wurde auch der erste Ins Deutsche übersetzt. w
Auch der 2015 veröffentlichte zweite Roman hat ebenfalls sexuellen Missbrauch und seine Folgen zum Thema. A Little Life stand auf der Shortlists des britischen Booker Prize (2015) und des International DUBLIN Literary Award (2017). Der Roman und mit ihm die Autorin sind heute im englischsprachigen Bereich Gesprächsthema.
Foto:
Die Autorin
© ard.de
Info:
Hanya Yanagihara, Ein wenig Leben, aus dem Englischen von Stephan Kleiner, gekürzte Lesung, gelesen von Torben Kessler, 4 mp3-CDs, Laufzeit 2 028 Minuten, Hörbuch Hamburg
ISBN 978 3 95713 077 8
Das Buch erschien im Carl Hanser Verlag
Das Entscheidende aber ist im Verlauf dieser wirklich entsetzlichen Geschichte, die Unfähigkeit - die, auch, wenn man sie verstehen kann, trotzdem lähmend ist – die Unfähigkeit also, all das Glück, das Jude im Leben stärker als andere Menschen erfährt, auch leben zu können. Denn zum Glück gehört auch, daß er in seinem Studium seinem Jura-Professor Harold, der zusammen mit seiner Frau einen Sohn verloren hatte, so gut gefallen hat, daß er ihn in die Familie einlädt und das Ganze so ausgeht, daß beide ihn adoptieren, er also jetzt Eltern hat, zwei Professoren. Zum Glück gehört auch, daß aus der Freundschaft zum schönen Willem Liebe wird und er mit ihm durch die Welt kommt und ununterbrochen kulturelle Höhepunkt erlebt. Aber auch an einen Arzt wie Andy zu geraten, der zu jeder Tages- und Nachtzeit alles für ihn tut, ohne ihn je im Stich zu lassen, ist ein großes Glück . Das kann man als Leser ebenfalls nicht immer aushalten, so viel Verständnis von der Seite von Willem, Harold sowie Andy und so viel Liebe. Zu seinem dann doch übertriebenen Glück im Leben gehört auch, daß überhaupt jeder ihn liebt, er ist bewundert im Beruf und geliebt von allen, die mit ihm zu tun haben – aber er kann es nicht genießen. Er ist für immer unfähig, die Vergangenheit hinter sich zu lassen. „Es geht übel aus“, sagt schon eine Kleinbürgerweisheit, weshalb gilt: „Nicht so hoch hinaus“. Das alles hat Jude verinnerlicht.
Als Hörerin weiß man schon lange nicht mehr, warum man sich das antut, die Schmerzen des Jude sich anhören zu müssen. Überall Schmerzen, körperliche, seelische. Schon lange hat sich in der Leserin eine Abwehr aufgebaut, sie hört zwar genau zu, ist aber schon längst gegen den Roman eingestellt, der in seiner Schmerzspirale immer weiter geht und überhaupt keinen Ausweg läßt, weil er derart Schwarz-Weiß malt, daß es nicht zum Aushalten ist. Das wird auf einmal zum Schmerzkitsch. Nichts ist normal. Alles ist übertrieben. Die Armut genauso wie der Reichtum, dieser Reichtum ärgert einem besonders, weil jeder der Beteiligten immer nur nach ‚oben‘ strebt und alles mit Geld, Ehre und Rum vergolten bekommt, die Freundschaft, jeder macht alles für den anderen, selbst die Feindschaft ist extrem. Das psychische Elend des Jude: extrem. Irgendwann glaubt man einfach der Autorin nicht mehr. Das kommt einem auf einmal total konstruiert vor, ein unechtes Leben, kein Leben.
Das bezieht sich auf den Inhalt, aber auch formal ist der Roman von ständigen Ungleichgewichten beschwert. Er springt, er führt ein, aber nicht aus, er läßt Personen wie den Adoptivvater, den Professor, einfach liegen, holt ihn dann aus der Versenkung, das ist so willkürlich und regt ab irgendwann in der Hörerin Widerstand, wo doch Empathie am Platze wäre. Das aber ärgert dann die Hörende erst recht, denn er tut ihr ja leid, dieser Jude, aber.... Aber leid tuen einem auch die, die auf der erzählerischen Strecke geblieben sind. Warum erfahren wir nicht mehr über diesen Malcom? Der ist nur zur Stelle, wenn es um das Haus geht, das er für Jude und Willem bauen soll und will. Aber gerade er als Schwarzer aus reichem und gebildetem Haus – was man anfangs gut fand, daß mal nicht der halbkriminelle Schwarze aus dürftigen Verhältnissen eine Rolle spielt, was man inzwischen genauso öde findet, weil nichts darauf gemacht wird – wäre doch eine interessante Romanfigur gewesen. Doch die Perspektive, daß letzten Endes alles nur um die Tragödie des Jude geht, der aus lauter Selbsthaß durch die an ihm verübten Verbrechen nicht leben kann, verhindert, daß aus den einzelnen Personen Menschen werden.
Über die Autorin
Hanya Yanagihara Yanagihara wuchs in Hawaii auf, wo schon ihr Vater japanischer Abstammung geboren wurde. Ihre Mutter kam in Südkorea zur Welt, wuchs aber in Hawai auf. Der erste Roman The People in the Trees (dt. Das Volk der Bäume) erschien 2013 . Er handelt vom Leben und den Missbrauchsskandal um den US-amerikanischen Virologen und Nobelpreisträger Daniel Carleton Gajdusek. Aber erst als sie 2015 ihren zweiten, diesen Roman A Little Life veröffentlichte, der international ein Erfolg wurde, wurde auch der erste Ins Deutsche übersetzt. w
Auch der 2015 veröffentlichte zweite Roman hat ebenfalls sexuellen Missbrauch und seine Folgen zum Thema. A Little Life stand auf der Shortlists des britischen Booker Prize (2015) und des International DUBLIN Literary Award (2017). Der Roman und mit ihm die Autorin sind heute im englischsprachigen Bereich Gesprächsthema.
Foto:
Die Autorin
© ard.de
Info:
Hanya Yanagihara, Ein wenig Leben, aus dem Englischen von Stephan Kleiner, gekürzte Lesung, gelesen von Torben Kessler, 4 mp3-CDs, Laufzeit 2 028 Minuten, Hörbuch Hamburg
ISBN 978 3 95713 077 8
Das Buch erschien im Carl Hanser Verlag