Auf die Schnelle: Gute Gesundheitsliteratur, gebraucht, Teil 79
Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Und nun also dieses Buch, mit der interessanten Umschlaggestaltung, wo als Zeichnung eine altmodisch angezogene Frau, also vom Hals bis den Zehenspitzen im Kleid und Hochfrisur auf einem Podest sitzt, unter einer Vorrichtung wie eine umgedrehte Bratpfanne und angeweht oder angestrahlt wird von Schall oder Luft durch eine elektrische Leitung. Aha, ‚Elektrisches Luftbad‘ heißt das Bild, aus einem Bucht von 1888.
Das mag man gleich, daß jede der 20 vorgestellten verschwundenen Krankheiten mit einem ganzseitigen Bild eingeleitet werden. Es sieht bei NEURASTHENIE nach demselben Künstler aus wie das Titelbild und heißt Elektrisches Wasserbad.Zur Erklärung: „Dem Patienten konnten mit der Apparatur rechts im Bild elektrische Ströme appliziert werden.“ Aua! Unsereinem stellen sich bei der Kombination und Wasser ja eher die Haare auf, eingedenk der Unglückstoten oder mit einem Föhn Ermordeten.
Dies ist ein ernsthaft wissenschaftlich unterfüttertes Sachbuch, weshalb zu Beginn immer die Synonyme für die jeweilige Krankheit, hier NEURASTHENIE aufgeführt sind: Neurasthenia, American Nervousness, reizbare Schwäche, Mal du siècle, Psychasthenie.
Es beginnt mit einer Kranken-Selbstbeschreibung: Brustenge.Hilfe. Keine Luft, aber der Schädel zerspringt fast, Weinkrampf...tägliche Anfälle, manchmal mehrmals. Kein Schlaf, übererregt. Es sind die Nerven, sagen die Ärzte. Also eine Kur. Im Stahlbad. Bäder mit eisenhaltigem Wasser. Elektrische Anwendungen, Schonkost. „Die anderen Kranken hier sind nicht gerade ein Gewinn, all diese vom Leben enttäuschten Frauen, die sich um die Aufmerksamkeit der Ärzte reißen, also wirklich mit allen Mitteln. Beschämend ist das.“(134)
Im Text heißt es dann, daß dieses Krankheitsbild von 1880 bis 1940 in Nordamerika und Europa häufig diagnostiziert wurde. Ursache pathologischen Geschehens seien die Nervenbahnen. Aber da keine organischen Befunde der Nerven zu finden waren, wurde von einer funktionellen Erkrankung und einer Zivilisationskrankheit gesprochen. Ursache sei die rasante Modernisierung und Technisierung des Lebens, auch Anspruch und Wirklichkeit der eigenen Sexualität. Noch gibt es die Krankheit laut Diagnosedialog, wird aber „seit einem Menschenalter kaum mehr vergeben.“
Danach kommt die Entdeckung der Krankheit. „In den 1880er Jahren explodierte die deutschsprachige Literatur zur Neurasthenie und auch zur Elektrotherapie.“(145), die elektrischen Eigenschaften des Körpers werden angeführt und dann die Auslöser dieser Krankheit benannt, sodann die Beschwerden, die so vielfältig sind, wie man sich nur denken kann: von Rückschmerzen über Impotenz bis Karies! Das war die Stunde der Nervenheilanstalten und Heilbäder, die teils überhaupt erst entstanden und viel Geld verdienten. Dilemma blieb: die einen rieten zur Ruhe, die die Kranken nicht fanden, die anderen zur Änderung des Lebensstils, also nach draußen zu gehen und aktiv zu werden.
In der Literatur galt die NEURASTHENIE als edle Krankheit, die eben die Feinfühligkeit des Patienten, in der Regel der Patientin zeige. Klar auch, daß diese Krankheit in Arbeiterkreisen kaum vorkam, bzw. nicht diagnostiziert wurde, nur in besseren Kreisen, was sich auch auf deren ökonomische Lage bezieht. Diese Art der NEURASTHENIE ist sogar seit 1900 verschwunden!
Am Beispiel der NEURASTHENIE kennen Sie nun den Aufbau, wie die einzelnen Krankheiten systematisch vorgestellt werden. Das ist wirklich erhellen. Erst recht, wenn man hauptsächlich über verschwundene Krankheiten liest, die man auch nicht kannte, als sie noch diagnostiziert wurden, wie Alpenstich, Cello-Hoden, Chlorose, Englischer Schweiß, Europäische Schlafkrankheit, Frieselfieber, Haffkrankheit, Mercurielle Stomatitis, Noma, Phosphornekrose. Das sind zehn, bedeutet, daß ich gleichfalls zehn kenne, von denen die Pocken, Contergan, Diphtherie wohl allen bekannt sind, aber auch Endemischer Kretinismus, Skrofulose, Sulfonat-Vergiftung oder Trichinose sich sprachlich erklären lassen.
So schade, denn ich hatte gerade über das Wiederauftauchen der Diphtherie gelesen und deshalb die Zeitungen der letzten Woche danach durchgeschaut, aber nichts gefunden. Es waren zwei Fälle, gerade jetzt und ich komme darauf, weil DIPHTHERIE auch eine der verschwundenen Krankheiten ist. Oje, auf Seite 60 ist das Bild eines Kindes mit geöffnetem Mund und den Symptomen auf Zunge und Rachen. Auch hier wird vorbildlich nach den synonymischen Krankheitsbegriffen eine Krankenschilderung vorangestellt, so daß wir von den Krankheitszeichen erfahren, wie sie Betroffene selber wahrnehmen. Es gab gewaltige Diphtheriepandemien Ende des 19. Jahrhunderts, sie galt als Armenkrankheit, weil beengtes Wohnen, keine Lüftung das Immunsystem sowieso schwächte. Louis Pasteur (1822-1895) und Robert Koch (1843-1910) haben die Ursachen der Krankheit als bakteriell gefunden, Emil Behring (1852-1917) und später Paul Ehrlich (1854-1915) Medikamente, die eine Antikörperbildung in Gang setzen. Wenn man das liest, hat man ständig Corona im Nacken, so ähnlich sind die gesellschaftlichen Auswirkungen, aber auch die Rolle der Wissenschaftler in der Medizin!
Und dann war es 1970 fast vorbei, aber die Zahlen stiegen wieder an, bis...auch das liest sich alles wie ein Zeitungsbericht zur Coronapandemie. Dieses Buch ist wirklich hilfreich zum Verstehen zur Entstehung von Krankheiten und den verschiedenen Wegen, sie zu eliminieren. Wir haben alles durchgelesen, manches durchgearbeitet und auch den Alpenstich könnten wir erklären. Die VERSCHWUNDENEN KRANKHEITEN von Sophie Seemann sind ein wirklich nützliches Buch in der gegenwärtigen Situation, in der auch der Normalbürger endlich ernsthaft über sich selbst Bescheid wissen will, warum er wie krank werden kann und auf welche Weise neue Krankheiten durch Viren und Bakterien entstehen können.
Foto:
Umschlagabbildung
Info:
Sophie Seemann, Verschwundene Krankheiten, Kulturverlag Kadmos Berlin 2019
ISBN 978 3 86599 300 7