Auf die Schnelle: Gute Gesundheitsliteratur, gebraucht, Teil 78
Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Geht es Ihnen auch so, daß Sie seit der Corona-Pandemie ein viel größeres Interesse an Krankheiten haben, also an der Kenntnis, welche Symptome auf welche Krankheit hindeuten, aber auch, wann man eher krank wird und vor allem – so war das bei mir – warum heute bestimmte Krankheiten nicht mehr vorhanden sind mit der insgeheimen Frage, unter welchen Umständen sie wiederkommen.
Weil mich seit jeher, mindestens seit der intensiven Beschäftigung mit Sigmund Freud (1856-1939) und Jean-Martin Charcot(1825-1893) die HYSTERIE als Krankheitsphänomen vor allem von Frauen, vor allem von gebildeten, kulturell interessierten Frauen fasziniert hat, deshalb fasziniert, weil ich noch mit dem Ausdruck meiner Wiener Mutter: „Sei nicht hysterisch“ aufgewachsen bin, wenn ich nicht wie sie wollte, wollte ich dies Buch über verschwundene Krankheiten unbedingt lesen, denn die Hysterie ist völlig verschwunden. Sie ist einfach als Krankheitsbild nicht mehr da, auch wenn man vor allem in Hollywoodfilmen von früher ihr Erscheinungsbild häufig visualisiert sehen kann, immer dann, wenn Madame den großen hysterischen Anfall hat und mit allem um sich schmeißt und laut kreischt. Und soll ich Ihnen etwas sagen: In diesem Buch, wo zwanzig verschiedene Krankheiten vorgestellt werden, ist die HYSTERIE nicht dabei! Das Buch ist trotzdem gut und lehrreich. Dazu gleich, vorweg aber doch noch einige Worte zu HYSTERIE.
Zufällig las ich in Verbindung mit den Wicker-Kliniken den Begriff Hysterie und mußte mich eines Besseren belehren lassen. Demnach gibt es sie noch heute als Krankheitsbild?! Daß seit Hippokrates die Deutung auf Frauen bezogen ist, deren Gebärmutter im Körper herumschwirrt und sexuelles Unbefriedigtsein bedeutet, hat die Männer Charcot und Freud zu Gründerzeiten zur Untersuchung von Frauen mit den diagnostizierten körperlichen und psychischen Phänomenen veranlaßt, wobei Charcot die neurologische und Freud die psychoanalytische Komponente betonte, die die Krankheitsbezeichnung dann gleich wieder aufhob und als eine Neurose weiterbestand. Neurosen aber gibt es verschiedenartige. Das, was früher also Hysterie hieß, ist heute eine Konversionsstörung. Nur interessiert das keinen mehr und in Filmen als exaltierte Frauen Dargestellte, sind halt einfach exaltiert. Oder doch nicht?
In der Selbstbeschreibung dieser Wicker-Klinik heißt es: „Zu der hysterischen Neurosenstruktur / Hysterie kommt es, wenn im 4. bis 6. Lebensjahr verwöhnende Eltern das Kind in der Auseinandersetzung seines kleinkindlichen Wunschdenkens mit der Realität nicht unterstützen. Oft bleibt es dann an den Eltern fixiert, insbesondere in der Form einer ödipalen Fixierung an den gegengeschlechtlichen Elternteil. Eine Hysterie bedeutet in dieser Hinsicht eine Regression (Rückschritt) auf kleinkindliche Bedürfnisse und Ausweichen von der Realität.“
Da sehen wir doch alle den Dreijährigen vor uns, der partout anders will als seine Eltern, die sogenannte Trotzphase, die ja nicht positiv beendet wird, wenn das Kind tut, was die Eltern wollen. Und nicht negativ, wenn das kleine Mädchen partout die Hose nicht anziehen will, die die Mutter ihr hinhält, sondern am Kleidchen festhält, durch nichts zu überzeugen ist, ihre Meinung zu ändern und dann die Mutter schachmatt setzt mit der Aussage: „Bin ich Dein Mensch oder mein Mensch“. Das ist ein Zitat aus der Wirklichkeit einer Vierjährigen.
Also mit einem Wort, ich stehe auch der neuen Deutung der Hysterie mißtrauisch gegenüber, erst recht, wenn dann obiger Text fortfährt mit der Symptomatik: „Das traditionelle Konzept der Hysterie ist mittlerweile im Wesentlichen durch die Gruppe der sogenannten dissoziativen Störungen ersetzt worden. Hier zur Erläuterung ein Zitat von Bräutigam: „Die Symptomatik der Hysterie ist bunt. Sie kann protheushaft, d. h. wie der sich wandelnde griechische Meeresgott, jede Krankheit vom Hirntumor bis zum Darmverschluss, vom Gelenkrheumatismus bis zum epileptischen Anfall imitieren. Die Symptome der Hysterie haben einen symbolhaften Charakter, d. h. dass der unbewusste Konflikt sich verschlüsselt in den Beschwerden darstellt.
In die Geschichte der Medizin wie die Geschichte selbst ist der Fall der „Anna O.“ eingegangen, die in den STUDIEN ZUR HYSTERIE von Freud und Josef Breuer, dessen Patientin sie war, ausführlich behandelt wird. Es handelt sich um Bertha Pappenheim, die geheilt anschließend in ihrer Mutter nach Frankfurt am Main ging und hier u.a. als Gründerin des Jüdischen Frauenbundes Sozialgeschichte schrieb. Sie selbst hat sich nie mehr zu ihren Behandlungen in Wien geäußert, die aufgrund ihrer Erstarrung und Sprachlosigkeit nötig schienen. Zuvor war der Vater gestorben.
Nun gut, auf jeden Fall war die HYSTERIE mir Anlaß, das Buch über Verschwundene Krankheiten zu lesen und nachdem ich dort diese Krankheit vermißte, fand ich sie am ehesten als NEURASTHENIE wieder, denn als solche Störung kommt sie schon bei Freud vor. Ist in diesem Buch ist diese allerdings bei den ausgestorbenen Krankheiten dabei.
FORTSETZUNG FOLGT
P.S. Interessant übrigens diese sprachliche Wendung: hysterisch sein. Man sagt ja nicht, sei nicht Fieber, sei nicht Grippe, sei nicht Bauchweh...
Foto:
Hysterisch!
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Info:
Sophie Seemann, Verschwundene Krankheiten, Kulturverlag Kadmos Berlin 2019
ISBN 978 3 86599 300 7