In Arno Camenischs neuestem Roman fallen Erinnerung, Winter, tote Kinder in Eins: ins Grau, das der auffällige Umschlag symbolisiert
Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Wie ein Sog zog mich die Landschaft an, wenn der auktoriale Erzähler den Weg des Mannes Richtung Graubünden im Auto beschreibt , deshalb holte ich mir als Erstes einen Atlas: Walensee, Chur, Surselva, Tamins, Trin, Flims Laax, Ilaanz, Rhein, Rueun, Waltensburg, dann tauchen die ersten Häuser des Dorfes auf, sein Heimatdorf, sein Ziel der Reflexion. Er steigt aus und wir folgen seinem Bewußtseinstrom. Ob das fünf Minuten waren, 5 Stunden, das ist einerlei. Erinnerung ist Erinnerung. Dann fährt er weiter.
Und wir wissen jetzt auch davon. Die Geschichte kann man in einem Satz niederschreiben und wenn Camenisch 103 Seiten füllt, so ist das Folge der Erinnerung dieses Namenlosen, der schon mit 18 Jahren das Dorf verlassen hatte, aber zu Besuchen zurückkam, Assoziationen aneinandergereiht, so logisch wie psychologisch. Mich beschäftigt aber noch, warum es in Romanen so selten Landkarten gibt oder Fotos der beschriebenen Landschaft. Sie könnten ergänzen. Auf jeden Fall ist dieser Ort ein Straßendorf, wie ich in Heimatkunde – einem Fach, das es schon Jahrzehnte nicht mehr gibt – lernte, wenn die Häuser an einer Straße aufgereiht stehen, hier in einer Talsohle.
Dort gibt es drei Monate im Winter nur Schatten und sehr schnell versteht man, daß der Schatten über dem Dorf nicht nur an der fehlenden Sonne liegt, sondern daß ganzjährig ein Schatten ganz anderer Art das Leben der Dorfbewohner zumindest für die jetzigen Generationen in Grau hüllt. Geschickt läßt der Autor uns erst einmal im Unklaren und Erinnerung über Erinnerung führt er das über dem Dorf lastende Unglück vom Tod dreier Kinder in immer konkretere Bahnen. Das gibt ihm Gelegenheit, seine Kindheit in Bildern zu beschwören, die sich an den Personen orientieren. Mit dem Großvater fängt es an, der auch deshalb so wichtig wurde, weil die Mutter sich nach Geburt von drei Söhnen bald vom Vater scheiden ließ, was im kleinen Dorf, eine Sensation war. Sie zieht mit den Kindern vorübergehend ins Elternhaus, der Vater wohnt abseits – er war ein großer Schweiger und spielt keine große Rolle. Später wird die Mutter sogar wegziehen und erneut heiraten. Der Erzähler spricht gut über sie und ihre Haltung zum Sohn , der nun erwachsen und mit einem Leben im Ausland und anspruchsvoller Lektüre wie Paul Auster seine Kindheit imaginiert.
Wie er im einzigen Laden einkaufen ging, wie die anderen Jungs, was noch eine Rolle spielen wird, wie es mit den Freundschaften war und dem Schatten, mit dem er schon aufwuchs. Denn der Tod dreier Kinder geschah vor seiner Geburt. Und immer wieder infiziert das Grauen seine Assoziationen an die Schule, an den Kirchgang, an die Freizeit, an den Fußball, an den Winter und der Erzähler streut wieder einige Details über diese drei Kinder im Alter von neun- bis elf Jahren ein, die eigentlich vier waren. Vier Freunde. Von denen einer überlebte. Eine kleine feine Variante in der Traurigkeit. Denn der Vierte hatte am Tag zuvor im Laden Zigarillos gekauft, angeblich für seinen Onkel, was er der Mutter gesteht, die eine psychologische Strafe verhängt: Weil er die Wahrheit sagte, bekommt er keinen Hausarrest, aber weil er im Laden gelogen hatte, darf er am nächsten Tag, dem ersten Tag der Ferien nicht mit den drei Kindern spielen, sondern muß auf dem Feld arbeiten. Und dadurch überlebt er. Leider hat der Erzähler wohl keinen Kontakt mit dem auf diese Weise Überlebenden, denn sicher ist für diesen Menschen mit der Erleichterung überlebt zu haben, auch ein tiefes Schuldbewußtsein, daß die anderen drei Freunde tot sind, verbunden. Doch das sind unsere Gedanken zu einer Geschichte, die mit Gedanken, Gefühlen, Erinnerungsfetzen eh schon reich gefüllt ist. Und die mäandert, die Sprache, denn es ist ein Strom von Worten.
Die Wahrheit über den Tod der drei Kinder rückt wie in konzentrischen Kreisen immer näher, in der Musik würde man von ‚Motiv und Thema‘ sprechen. Begonnen hatte es am Anfang mit den drei Kindergräbern, zu denen die Mutter ihn und seinen Bruder führte und in seinem Bewußtseinsstrom bauen sich bei jeder Gelegenheit Trauer und Hoffnungslosigkeit gegenseitig auf, es ist das zentrale Ereignis, was sein Grundgefühl dem Dorf gegenüber konstituiert. Als man dann erfährt, daß den drei unglücklichen Kindern geklautes Benzin in der Hütte am Wald zum Verhängnis wurde, als aus Zündeln der vernichtende Brand wird, wird das schnell abgehakt, aber die toten Kinder bilden in gewissem Sinn die Coda der Geschichte. Denn während wir noch schreiben, ist ja der Ungenannte längt weitergefahren.
Im letzten Roman von Arno Camenisch – nominiert bei den letzen 20 des Deutschen Buchpreises 2020, wodurch ich den Autor erst kennen und schätzen lernte – bringen uns zwei Schwestern in so monologisierender wie dialogisierender Weise ihr ganzes Leben rund um den Kiosk vor Augen und sie vergewissern sich in permanenter Erinnerungsarbeit dabei ihres Glücks. In diesem Roman führt die Erinnerungsarbeit, die wir nicht direkt verfolgen, sondern mittels des Erzählers erfahren, zum Gegenteil, der Vergewisserung des Schattens über dem Dorf, der nicht verschwindet. Den aber läßt der ehemalige Dörfler und jetzige Weltbewohner, von dem wir fast nichts wissen als seine Gedanken und Gefühle zum Dorf, hinter sich und fährt mit dem Auto weiter.
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Info:
Arno Camenisch, Der Schatten über dem Dorf, Engeler Verlag, 26. Februar 2021
ISBN 978 3 906050 80 5