Auf die Schnelle: Gute Kulturliteratur, gebraucht, Teil 94
Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Corona hat ja auch das ganze Pilgerwesen zum Erliegen gebracht. Damit ist nicht nur das körperliche und seelische, auch geistige Heil, das die Pilger erwarten, perdu, sondern auch die ganzen Unterstützer auf den Wegen, die ja, ob Herbergsväter und -mütter, ob Lokale, ob die staatlichen Stellen mit den Stempeln für das Erreichen der Zwischenziele und dann als Höhepunkt: Rom oder immer stärker Santiago de Compostela. Und auch die derzeitigen Ausstellungen waren ja die ganze Zeit geschlossen: 26.7.20 bis 1.11.20 Museum Lüneburg: Von Lüneburg an das Ende der Welt; Wege in den Himmel vom 3.10.20 bis 14.2. 21 Museum Schwedenspeicher Stadt. OFFEN! VERLÄNGERT BIS 16. Mai !!!!
Aber auch wer nicht dorthin fahren kann, findet in dem mehr als dicken Ziegelstein, den der Katalog darstellt, auf 525 DIN A4 Seiten, genug Informationen, um einerseits zum Experten für mittelalterlichen Pilgerwesen zu werden und andererseits beglückt über die Darstellungen von Skulpturen und Gemälden, wie die ganzseitige Kreuzigung vom Frankfurter Meister um 1500. Trotz der Größe ist es eine ‚kleine‘ Kreuzigung im Gegensatz zu den damals in der deutschen Renaissance gerade aufgekommenen und dann häufig vertretenen Kreuzigung mit viel Volk, wo also massenhaft das Volk Jerusalems hinter Golgatha zu sehen ist. Hier herrscht noch die stille Kontemplation des mittelalterlichen Gläubigen. Hinter dem an drei Nägeln ans Kreuz geschlagenen Jesus sieht man im Hintergrund zart in den Farben das himmlische Jerusalem und rechts vom Kreuz den jungen Evangelisten Johannes und links die Mutter Maria, sehr alt und vollständig behütet, wie im Mittelalter die Nonnen, so empfindet man.
Das haben wir rasch beim Betrachten des Gemäldes angemerkt. Das Bild leitet aber auf Seite 270 ein Kapitel ein, das heißt: Die Wahrnehmung von Jerusalem in der Malerei des Spätmittelalters. Das interessiert uns sofort, weil das ‚himmlische Jerusalem‘ natürlich viele Bezüge hat, wobei erst in dieser Zeit und dann zunehmend strikt zwischen einer Karte und einem Gemälde unterschieden wird. In den alten Karten war auf diesen einfach an der Stelle Jerusalems deren Häuser und Stadtbild eingezeichnet worden. Der Artikel weist nun nach, daß es in der Darstellung Jerusalems auf Kreuzigungen um zwei unterschiedliche Stadtmuster handelt, die einmal aus Nürnberg, ein andermal aus Utrecht als Quellen stammen. Autor Mordechay Lewy weist nun nach, daß sich aus dem himmlischen Jerusalem nach und nach das irdische Jerusalem entwickelt, wo also die Stadtansicht auf die wirklichen Gebäude nach und nach Bezug nimmt. „Das himmlische Jerusalem blieb verklärt verklärt, vergeistigt und fest gefügt, wie es in der endzeitlichen Vision der Offenbarung des Johannes erscheint. In dem Maße, in dem Jerusalem jedoch verstärkt von europäischen Pilgern aufgesucht wurden, löste jedoch diese Verklärung weiter auf, Im 15. Jahrhundert trat das irdische Jerusalem dann fast gänzlich in den Vordergrund der bildenden Künste.“ Im Folgenden wird an vielen Bildbeispielen die Entwicklung ästhetisch verdeutlich.
Das war nur mein Einstieg in den Katalog beim Herumblättern. Natürlich soll man vorne anfangen, wo einen erst einmal ein Ausschnitt aus der Ebstorfer Weltkarte um 1300 auf zwei Seiten dargestellt ist. Das ist die Karte, wo, wie oben dargestellt, auf deren Fläche einfach die Städte und Ortschaften eingemalt sind, so wie kleinere Kinder noch heute eine Karte malen würden.
Das Inhaltsverzeichnis weist auf, wie umfangreich die Doppelausstellung ist. In der Einführung werden Pilgerfahrten und Wallfahrtskirchen in Norddeutschland behandelt, ein Stiefkind in der Forschung, weil nach der Reformation katholische Bräche endeten. Die zweite Einführung stellt die Wallfahrtsbegeisterung im späten mittelalter dar und verweist auf heutige Spuren im Stadtbild Lübecks. Und dann werden im ersten Kapitel Quellen und Zeugnisse der Wallfahrtsforschung ausgebreitet: Pilgerbriefe, Testamente, Ablässe, Mirakelbücher, Rechnungen, Sühneverträge, Pilgerzeichen, Bildzeugnisse...., die zeigen, welch vielfache Dokumente vorhanden sind. Hier eine Anmerkung, wie neue Forschung das Terrain erweitert: Erst zur großen Ausstellung über den Reformator in Mannheim im Martin-Luther-Jahr, wurde bekannt, daß man bei den archäologischen Grabungen in seinem Elternhaus auch einige der der Pilgerabzeichen gefunden hat. Und zwar nicht frühere, sondern genau aus der Lutherzeit. Man nimmt deshalb an, daß die absichtsvolle Mißachtung der katholischen Bräuche erst später eintrat. Interessant.
Im zweiten Kapitel geht es um die Reisen nach Santiago de Compostela: die Reisewege,Reisezeiten und Gefahren. Am Beispiel von Krämer Hinrik Dunkelgud und seinem Kompagnon wird eine Reise im Jubeljahr 1479 Compostela nachvollzogen. Eine andere Reise einer schwedischen Gräfin wird durchleuchtet. Man freut sich einfach, wie nach so vielen Jahrhunderten das noch möglich ist. Diese Freude setzt sich bei den anderen Kapiteln fort.
Im dritten Kapitel geht es um die Reisen nach Rom. Auch hier wird in der Regel die Pilgerfahrt eines einzelnen mit noch vorhandenen Utensilien nachvollzogen. Hier sind es aber nicht alltägliche Personen, sondern Herzöge, ja eines dänischen Königs, aber auch eine fiktive Pilgerfahrt Till Eulenspiegels, der in einem Fresko von 1480 als Hofnarr dargestellt ist, so alt ist seine Herleitung. Hier ist der Inhalt Köstlich. Es geht um eine Satire von 1514, wo das ganze Prozedere durch den Kakao gezogen wird.
Im vierten Kapitel ist endlich Jerusalem das Ziel der Pilgerfahrt, denn es gab Hierarchien, hier Santiago, Rom, Jerusalem, wobei auch heute sicher mehr Menschen Jerusalem und Rom besuchen, aber sicher die meisten Pilgerfahrten, bzw. Pilgergänge zu Fuß nach Compostela gehen. Wichtig sind hier die Nachweise, daß man dort war, die beispielsweise durch Tätowierungen gezeigt werden konnten. Sehr modern! Heute würde man ein Selfie machen.
Von anderer Qualität ist dann die Rheinische Wallfahrtslandschaft , weil im Pilgerdreieck Aachen, Maastrich und Köln einfach mehr Volk unterwegs war.
Wir können nicht alle weitern Kapitel vorstellen. Es macht einfach Spaß, mit dem Buch im Schoß auf Pilgerreise zu gehen.
Erst am Schluß ist mir eingefallen, daß ich ja tatsächlich in allen drei für das Mittelalter wichtigsten Pilgerstätten war, sogar mehrfach. Das liegt aber daran, daß auf den Wegen nach Compostela und Rom sehr viele Kirchen und Klöster diese Wege für die Kunst und das heißt für heutige Kunststudenten oder Kunstliebhaber zu einem Muß machen. Nicht immer zu Fuß, auch mit dem Bus, aber es sind Eindrücke für‘s Leben. Und Jerusalem hat außer den christlichen Stätten (und Bethlehem im Palästinensergebiet) heute mit dem Tempelberg und der Klagemauer für alle drei monotheistischen Religionen sein Zentrum.
Foto:
Cover
Info:
Katalog: Pilgerspuren. Wege in den Himmel. Von Lüneburg an das Ende der Welt, Pilgerspuren: Orte. Wege. Zeichen, Hrsg. Museen Stade und Museum Lüneburg bearbeitet durch Hartmut Kühne. Imhof Verlag 2020
ISBN 978 3 7319 1004 6