Für Max Frisch, der vor 30 Jahren, am 4. April 1991, starb
Klaus Philipp Mertens
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - „Es gibt Augenblicke, wo man sich wundert über alle, die keine Axt ergreifen...gegen all diese lebenslängliche Hoffnung auf Ersatz für wirkliches Leben, inbegriffen die jämmerliche Hoffnung auf das Jenseits...“
Diese Sätze aus Max Frischs Lieblingsstück „Graf Öderland“ beschreiben das Motiv dieses Dramas und gleichzeitig ein Hauptanliegen des Schriftstellers, nämlich die Verlorenheit des Menschen. Deswegen stelle ich es der allgemeinen Würdigung des Autors als exemplarisch für andere seiner Romane und Stücke voran.
Die Handlung beginnt mit der nicht nachvollziehbaren Tat eines bislang äußerst gewissenhaften Bankangestellten. Der hat einen Hausmeister grundlos mit der Axt erschlagen. Der Staatsanwalt, der die Anklage führen soll, bringt nach der Lektüre der Akten Verständnis für den Mörder auf:
„Es gibt Augenblicke, wo man sich wundert über alle, die keine Axt ergreifen. Alle finden sich damit ab, obschon es ein Spuk ist. Arbeit als Tugend. Tugend als Ersatz für die Freude. Und der andere Ersatz, da die Tugend nicht ausreicht, ist das einfache Vergnügen: Feierabend, Wochenende, das Abenteuer auf der Leinwand. Hoffnung auf den Feierabend, Hoffnung auf das Wochenende, all diese lebenslängliche Hoffnung auf Ersatz, inbegriffen die jämmerliche Hoffnung auf das Jenseits, vielleicht genügte es schon, wenn man den Millionen angestellter Seelen, die Tag für Tag an ihren Pulten hocken, diese Art von Hoffnung nehmen würde: groß wäre das Entsetzen, groß die Verwandlung. Wer weiß! Die Tat, die wir Verbrechen nennen, am Ende ist sie nichts anderes als eine blutige Klage, die das Leben selbst erhebt. Gegen die Hoffnung, ja, gegen den Ersatz, gegen den Aufschub... .“
Statt die Anklage vorzubereiten, sinniert der Staatsanwalt darüber, ob die Durchschnittsexistenz, der der Anzuklagende führte, typisch sein könnte für das Schicksal von Millionen Menschen. Dass diese Alltagsroutine bereits alles ist, was man vom Leben erwarten darf. Schließlich entscheidet er sich persönlich für einen radikalen Bruch mit den Verhältnissen, an deren Legitimität er bislang wenig zweifelte. Nun stellt er alles infrage, ist bereit, sämtliche Brücken hinter sich abzubrechen. In der Hütte eines Köhlers, mitten in den Wäldern gelegen, versteckt er sich vor der alten Welt. Die Tochter des Köhlers erzählt ihm vom legendären Grafen Öderland, der mit einer Axt bewaffnet durch die Wälder zöge, um die zu rächen, die ihren Kampf um Gerechtigkeit verloren haben. Der Staatsanwalt fühlt sich dazu berufen, in die Fußstapfen des sagenhaften Öderland zu treten und einen neuen Feldzug gegen das Böse anzuzetteln. Mit einer kleinen Gruppe entschlossener Kämpfer, darunter auch die Tochter des Köhlers, begibt er sich in das Kanalsystem unter der Hauptstadt. In diesem Untergrundkampf tötet er alle, die sich seinem Anspruch auf und seinem Verständnis von Freiheit und Gerechtigkeit entgegenstellen. Hinter ihm scharen sich immer mehr Anhänger, die Verzweiflungstat eines Juristen wächst sich zum allgemeinen Aufruhr aus. Als die Regierung, der keine politischen Gegenmaßnahmen einfallen, die Kanäle fluten lässt, können sich er und wenige Gefolgsleute nur knapp retten. Es gelingt ihnen, sich zur Insel Santorin abzusetzen. Von dort aus bereitet der Staatsanwalt erneut einen Angriff auf den Regierungssitz vor. Die Rebellion führt am Ende zwar zu einem politischen Umsturz, doch die ersehnte Freiheit lässt sich nicht verwirklichen. Denn die Strukturen, welche materielle Abhängigkeit, diverse Formen obrigkeitlicher Bevormundung und vermeintliche Sachzwänge hervorbringen, sind durch eine Revolte, die lediglich den Herrschaftsapparat austauscht, nicht zu überwinden. Dem Staatsanwalt wird klar: Vor jeder Revolution muss die Doppelfrage „Freiheit von wem?“, „Freiheit wozu?“ konkret gestellt und schlüssig beantwortet werden. Denn es geht um die zentralen Elemente des Menschseins. Ist der Mensch eine selbstbestimmte ethische Persönlichkeit oder hat er das, was ihn ausmacht, bereits wieder verloren? Stürzt er sich ständig in neue Formen von Verlogenheit und menschlicher Entfremdung?
Verlorenheit, die man verdrängt, weil man nicht zugeben will, dass man desorientiert, dass man ein Irrender und Suchender ist, äußert sich in Verlogenheit. In Verlogenheit über das eigene Leben, die eigenen Wünsche, die eigenen Perspektiven. Die Menschen flüchten sich aus der Realität, indem sie vermeintliche Tugenden kreieren und sie kleistern damit die Risse in ihrem Leben zu, kleben eine Tapete über das brüchige Mauerwerk, weil die Wahrnehmung dieser Brüche alles in Frage stellen würde. Weil sie die Wahrheit fast noch mehr fürchten als den Tod. Weil sie ahnen, dass sie, obwohl Teil der lebendigen Welt, sich aus dieser bereits als Mitgestalter verabschiedet haben. Die Attribute dieses Abschieds sind falsche Genügsamkeit, die Verneinung der eigenen Persönlichkeit und die unaufrichtige Zustimmung zu den vorgefundenen Verhältnissen.
Bis heute führt „Graf Öderland“ auf deutschsprachigen Bühnen ein Schattendasein. Insgesamt existieren drei Fassungen. Die erste wurde am 10. Februar 1951 im Züricher Schauspielhaus den erwartungsvollen Zuschauern präsentiert, aber ohne deren Beifall zu finden. Die zweite Fassung wurde am 4. Februar 1956 im Kleinen Haus der Städtischen Bühnen Frankfurt am Main in einer Inszenierung von Fritz Kortner uraufgeführt. Auch hier war die Resonanz mager. Die dritte Fassung, deren Premiere am 25. September 1961 am Berliner Schillertheater stattfand und die der ursprünglichen Skizze in Frischs „Tagebuch“ wieder näher kam, vermochte ebenfalls nicht zu überzeugen.
1968 produzierte der Hessische Rundfunk einen Spielfilm. In der Hauptrolle des Staatsanwalts war Bernhard Wicki zu sehen. Aber auch der Film scheiterte an formalen Problemen der Darstellung. Das Stück erwies sich bei einer 1:1-Umsetzung als zu sperrig für Bühne und Film. Seither haben es nur wenige Regisseure gewagt, dieses Stück in einer Weise zu inszenieren, sodass seine Botschaft verstanden wird.
Beispielsweise jener hochpolitischen: „Wir sind das Volk“. Einer Lesart, der Volker Lösch in Dresden angesichts der Pegida-Aufmärsche im Herbst 2015 folgte. Das Stück passt in eine Zeit und eine Gesellschaft, in der sich die Widersprüche des Kapitalismus erneut und besonders folgenreich für den Einzelnen offenbaren. Max Frischs Kunst muss offensichtlich ihre Entsprechung in der Kunst eines Regisseurs finden, der dieses Stück zu vermitteln versteht.
Bereits in seinem „Tagebuch“ verfasste Frisch im Jahr 1946 eine erste Prosaskizze des Stücks und sie macht verständlich, warum er dieses Drama als sein liebstes und geheimnisvollstes bezeichnet hat.
Am „Graf Öderland“ lässt sich auch Max Frischs gelegentliche Nähe zum epischen, also erzählenden Theater, zu dem ihn Bertolt Brecht ermuntert hat, deutlich abspüren. Das Drama wirkt bruchstückhaft, es scheint im eigentlichen Sinn des Wortes unvollendet zu sein. Das Ende und damit das Urteil über die Ereignisse werden in die Hand des Zuhörers und Zuschauers gelegt.
Max Frisch wurde am 15. Mai 1911, also vor 110 Jahren, in Zürich geboren. Er starb bereits vor 30 Jahren, am 4. April 1991, fünf Wochen vor seinem 80. Geburtstag. Sein Werk ist nach wie vor lebendig, ist jenen, die lesen und zuhören können, immer noch und immer wieder eine Herausforderung. Und so, wie während der vorangegangenen Jahrzehnte streiten sich die Menschen über das, was Max Frisch geschrieben hat und sind sich keineswegs einig über seine Bedeutung. Die Reihe der nicht immer wohlmeinenden Kritiker wurde lange angeführt von Friedrich Dürrenmatt, dem Schweizer Landsmann und zeitweiligen Freund.
Doch was kann einem Dichter Besseres passieren, als dass die Leute seines Zeitalters und auch jene, die danach kommen, sich über ihn streiten. Ist der Streit doch ein Zeichen dafür, dass die Dichtung Spuren hinterlassen hat, dass sie Themen aufgegriffen hat, die der realen Welt entlehnt waren und in denen sich deswegen so viele wiederfinden konnten und können und eben auch wiederfinden sollten. Und von denen sich viele gescheut haben, in jenen Spiegel zu schauen, den ihnen Max Frisch vorgehalten hat. Weil sie in seinen Erzählungen, Romanen und Theaterstücken sich selbst, zumindest in wesentlichen Zügen, wiedererkannten und wiedererkennen und immer wieder erneut erschrocken darüber sind.
Man schaut in einen Spiegel, um sich der eigenen Einmaligkeit zu versichern und blickt in die eigene Verlorenheit, nämlich den jeweiligen persönlichen Irrweg zwischen Identität, Selbstentfremdung und Anpassung an vermeintliche gesellschaftliche oder wirtschaftliche Zwänge.
Max Frisch war nicht pflegeleicht, wie man heute sagen würde. Er war kein Angepasster, fand sich mit den Verhältnissen eher selten ab, obwohl er durchaus ein Bonvivant war, der das Leben und dessen Annehmlichkeiten sehr genossen hat. Nein, er zählte nicht zu jenen Schreibern, die, um stets im Literaturbetrieb präsent sein zu können, immer wieder bei sich selbst abschreiben und die so im Laufe eines Künstlerlebens das eigene Schaffen und die eigene Bedeutung vernichten.
Nein, er entwickelte sich, nicht immer nach oben, sondern auch gelegentlich dorthin, wo er bereits schon einmal gestanden hatte. Da er die Größe besaß, sich korrigieren zu können, empfindet man sein Werk dennoch als Protokoll einer ständigen Entwicklung nach vorn, nach oben.
Er war ein Mann mit klar konturierten Eigenschaften, die seiner Umwelt und seinen Bewunderern und Kritikern mitunter auf die Nerven gehen konnten. Er blieb nicht unverbindlich in der Darstellung der Menschen, der Dinge und der Verhältnisse. Und zwischen den Zeilen seiner Werke spürt man etwas von jenem Aufruhr, der in seinem Innersten immer wieder tobte, der ihn zu literarischen Provokationen wie dem „Öderland“ antrieb. Das Feuer, das in seiner Seele zu brennen schien, begegnet uns in seinen Werken vielfach als Irrlicht. Aber bei den Lesern seiner Romane und den Zuschauern seiner Dramen vermag es wahre Feuersbrünste zu entfachen, soweit man bereit ist, sich auf eine Auseinandersetzung mit dem einzulassen, was der Dichter zur Sprache bringen wollte.
Viele seiner späteren Nichtleser und Verächter haben Max Frisch in der Schule kennengelernt, im Deutschunterricht. Wurden mit Themen konfrontiert, die sie nicht oder allenfalls sehr schwer begreifen konnten, weil ihnen in diesem Lebensabschnitt zwischen 14 und 18 Jahren zumeist die notwendigen Lebenserfahrungen fehlten, um die Sujets in Frischs Romanen und Stücken in ihren vollen Bedeutungen erfassen zu können. Denn wenn Literatur einen Sinn machen soll, dann muss sie das Leben in seinen verschiedenen Nuancierungen wiedergeben. Einschließlich der Träume, der Hoffnungen und auch des vermeintlich Undenkbaren bis hin zum Unsagbaren.
Max Frisch fühlte sich einer Grundtugend der Literatur verpflichtet: nämlich der Suche nach der Wahrheit des Lebens und damit eng verbunden dem Problem der menschlichen Identität. Seine besondere Aufmerksamkeit galt dem Phänomen der Sprache. In seinen Tagebüchern findet man immer wieder entsprechende Einträge. So z.B. diesen:
„Was wichtig ist, ist das Unsagbare, das Weiße zwischen den Worten, und immer reden diese Worte von Nebensachen, die wir eigentlich nicht meinen.“
Frisch ist wiederholt vorgeworfen worden, seinen Werken mangele es an konkreten politischen Bezügen. Wenn er die Vorgänge in einem autoritären, undemokratischen Staat beschreibe, dann zögere er, dessen Namen zu nennen. Diese Zurückhaltung galt jedoch nicht für sein eigenes Heimat- und Vaterland, die Schweiz. Sein „Dienstbüchlein“ über seine Zeit bei der Armee ist dafür ein beredtes Beispiel. Doch es würde zu kurz greifen, ihn als unpolitischen Autoren zu bezeichnen. Bereits im Tagebuch von 1948 notiert er: „Wer sich nicht mit Politik befasst, hat die politische Parteinahme, die er sich ersparen möchte, bereits vollzogen; er dient der herrschenden Partei.“
Die Suche nach Identität, das Entrinnenwollen aus unterschiedlichen Zwängen, aber auch das Verhältnis der Geschlechter ziehen sich als Spuren durch seine Werke, sei es nun sein früher Roman „Stiller“, die Erzählung „Homo Faber“, das Lehrstück „Biedermann und die Brandstifter“, das Drama „Andorra“, das Antisemitismus und Mitläufertum kritisiert oder der Roman „Mein Name sei Gantenbein“. In seinem Spätwerk „Montauk“ realisiert der spürbar älter und auch bereits krank gewordene Max Frisch, dass die Vergänglichkeit, von der er immer wieder geschrieben hatte, auch ihn selbst betrifft. Dass die Zukunft, an der er noch würde teilhaben können, eine begrenzte sein würde. Die Zeit verging, ging nicht an ihm vorbei, sondern er verging mit ihr. Und so richtet er in ungewohnter Offenheit seinen Blick in die eigene Vergangenheit und beschwört gleichzeitig die intensive Erfahrung von Gegenwart.
Foto:
Plakat zur Graf Öderland-Aufführung des Theaters Basel
© Theater Basel