Märchen und Sagen des unbekannten Grimm-Bruders in der Anderen Bibliothek, Teil 1/2
Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Eigentlich müßte zuerst das schreibende Duo Heiner Boehncke undHans Sarkowicz erwähnt werden, denen so manche literarische Schatzsuche gelungen ist. Nachdem sie dem staunenden Publikum erst in einem regelrechten Kunstband – ebenfalls in der Anderen Bibliothek erschienen– den dritten Grimm-Bruder, den Künstler „ Ludwig Emil Grimm – Lebensserinnerungen des Malerbruders“ im Jahr 2015 vorgestellt hatten, lernen wir jetzt den dann doch etwas armen Ferdinand (19.12.1788-6.1.1845) kennen, der nur 3 Jahre jünger war, als der Älteste der Brüder, Jacob (4.1.1785-20.9.1863) , der nach dem frühen Tod des Vaters (1796) und dann auch noch dem der Mutter (1808) als Familienoberhaupt fungierte und während wir das schreiben, reflektieren wir das Wort Oberhaupt, das doch ein sehr bildlicher Begriff ist, sinnlicher als Familienvorstand.
Aber als solcher fungierte er wirklich, wohl im Verein mit Bruder Wilhelm (24.2.1786-16.12.1859), mit dem er ja als Brüder Grimm, auch Gebrüder Grimm, eine deutsche Institution wurde. Auch deshalb ist man verblüfft, daß da noch ein Bruder nach dem anderen literarisch auftaucht. Wenn die beiden Autoren betonen: „Mit den hier präsentierten Sagen, Märchen und Briefen wollen wir Ferdinand Grimm als Autor, Sammler , Herausgeber und großen Literaturkenner, 175 Jahre nach seinem Tod erkennbar machen. Wir wollen dazu beitragen, ihn als einen Bruder Grimm wahrzunehmen. Es ist keinesfalls unsere Absicht, Jacobs und Wilhelms Verdienste als überragende Märchen- und Sagensammler und Bearbeiter, als Sprach – und Literaturforscher und Erfinder des Deutschen Wörtbuchs zu schmälern. Wir erlauben uns aber, ihrem Bruder Ferdinand die Gerechtigkeit nachzutragen, die sie ihm verweigert haben.“
Denn daß die beiden berühmten Brüder das taten – Wilhelm hatte am Schluß den Kontakt ganz abgebrochen, Jacob aber hatte ihn kurz vor seinem Tod noch einmal besucht - geht aus den ganzen Briefwechseln hervor, auf denen letzten Endes diese Art Ferdinand-Biographie beruht. Die Autoren führen das auf einen Familienskandal zu Weihnachten 1810 in Kassel zurück, den sie mit einer Offenlegung der Homosexualität von und durch Ferdianand vermuten, was einem einleuchtet. Und es war von den beiden berühmten Brüdern auch nicht korrekt, daß sie den Bruder Ferdinand bei ihren zweibändigen KINDER- UND HAUSMÄRCHEN (1812-1815) nicht erwähnten, denn auch er hat für sie gesammelt, die sie auch verwendet hatten. Rehabilitation ist also angesagt.
Und dennoch haben wir kurz unsere eigene gesellschaftliche Situation reflektiert. Wir sind doch heute, wie es auch in der nachrevolutionären Zeit, der Biedermeierzeit, war, sehr auf das Erfassen, Dokumentieren, Durchleuchten der Vergangenheit orientiert, eine historisierende Zeit. Ende der Sechziger und auch der Siebziger des vorigen Jahrhunderts war der Blick sehr viel mehr nach vorne gerichtet, scheint mir heute. Sicher ist die Melange aus beidem sinnvoll, in dem Sinn, daß, wenn man nicht weiß, woher man kommt, man auch nicht weiß, wohin man geht. Der schöne, kompakte 445 Seiten umfassende Band – ein Nach-, ein Extradruck vom November 2020 der auf 3 333 limitierten Originalausgabe, der 428sten der Anderen Bibliothek vom August 2020 – beginnt mit Ferdinands VOLKSSAGEN UND MÄHRCHEN DER DEUTSCHEN UND AUSLÄNDER, die er 1820 herausgibt. Während wir noch dem Wort ‚Ausländer‘ nachspüren (das sagt man so dahin, man fährt ins Ausland, aber die Ausländer leben in Deutschland, denn zu den im Ausland Lebenden sagen wir: die Italiener, die Spanier...), verpassen wir den Anschluß bei den ersten ‚Mährchen‘, dem vom „Mantel, Spiegel und Fläschchen“. Später, bei ‚Michael Kohlhaas‘ merken wir, daß diese gedankliche Ablenkung nicht der Grund war, daß man beim Lesen stockte. Man muß diese Märchen hochkonzentriert lesen. In jedem Satz steckt die Voraussetzung für den folgenden. Das Gegenteil von Kondensieren sozusagen.
1838 gibt Ferdinand Grimm unter dem Pseudonym Lothar die VOLKSSAGEN DER DEUTSCHEN heraus. Und auch hier geht es uns so, daß wir nach einigen Texten erst die Ausführungen über ihn VERGESSEN UND VERDRÄNGT. FERDINAND GRIMM IM ABSEITS lesen, dann wieder zu den Märchen oder Sagen zurückkehren. 1846 erscheinen - posthum - seine BURG- UND BERGMÄRCHEN, die uns wiederum fragen lassen, welche Unterarten von Märchen es überhaupt gibt, auf jeden Fall weiß man sofort, welche Art Märchen hier gemeint sind. Schon wieder schlagen wir nach einigen Märchen die Seiten 261 ff auf, denn QUELLENNACHWEIS UND ERLÄUTERUNGEN helfen dem Leser und zeigen zudem die philologische Kärrnerarbeit der Autoren auf. Diese Burg-und Berg-Märchen hatte ein bis heute unbekannter B. als drittes Buch des Ferdinand unter dem Autorennamen Friedrich Grimm herausgegeben und B. muß das Manuskript schon vor dem Tod des Ferdinand gehabt haben, denn Bruder Jacob hatte den Nachlaß gesichtet und die noch vorhandenen Märchen mit nach Berlin (heute Staatsbibliothek Berlin) genommen.
Aus diesem Konvolut haben 1979 bei Diederichs Gerd Hoffmann und Heinz Rölleke – von uns unbemerkt – DER UNBEKANNTE BRUDER GRIMM herausgegeben, Texte, darunter viele Märchen, die nun in diesem Band ab Seite 213 abgedruckt sind, denen noch fünf weitere aus dem Nachlaß folgen. So mittendrinnen beim Blättern und Festlesen, insbesondere wenn es um die Zusammenkünfte mit Clemens Brentano und Achim von Arnim (Des Knaben Wunderhorn) und Bettine Brentano geht, später über Jean Paul, freut man sich auf einmal heftig auf das Romantikmuseum, das bald in Frankfurt neben dem Goethehaus eröffnet wird.
FORTSETZUNG FOLGT
Foto:
Cover
Die Brüder Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Seite 319 des Bandes
Seite 324 und 325 Von Hanau nach Steinau an der Straße. Abbildung oben: Haus zur Grünen Linde, Hanau, wo Ferdinand geboren wurde; Abbildung unten: Das Steinauer Amtshaus, wo die Familie sieben Jahre wohnte ©die-andere-bibliothek.de
Info:
Heiner Boehncke, Hans Sarkowicz, Der fremde Ferdinand. Märchen und Sagen des unbekannten Grimm-Bruders, mit einem Vorwort und einer biographischen Erkundung von Heiner Boehncke und Hans Sarkowicz. Bereichert mit zahlreichen Abbildungen, als Extradruck der Die Andere Bibliothek, Berlin 2020
www.die-andere-biliothek.de