Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) –Da Boehncke/Sarkowicz das Leben des Ferdinand hauptsächlich über Briefe lebendig werden lassen müssen, empfinden wir die älteren Brüder in ihrer Ansprache an Ferdinand oder ihren Äußerungen über ihn doch als sehr selbstgerecht, insbesondere Wilhelm unterstellt dem von ihm massiv abgelehnten Bruder ein ‚steinernes Herz‘, was der Leser aber postwendend dem Schreiber attestiert.
Wieso ausgerechnet Wilhelm, mit Familie gesegnet, später den Kontakt mit dem Bruder für immer abbrach, wundert einen, insbesondere, weil nur Jacob und Wilhelm über Geldmittel verfügten. Ab und zu unterstützen sie den Bruder, der nach Aufenthalten bis 1815 in München und Berlin, wo er 19 Jahre lang, erst begeistert beim Verleger Reimer als eine Art Lektor arbeitet, dann uninspiriert am Schluß entlassen wird. Und liest man die literarischen Urteile, die Ferdinand so locker von oben herab knallhart ausspricht, wundert man sich schon, genauso wie man sich freut, daß er als absoluter Fan von Heinrich von Kleist dessen Genialität rühmt und dessen Selbstmord am 21. November 1811 34jährig tief und nicht nachlassend bedauert. Das gefällt am Konzept der Autoren, daß sie einerseits das Leben des Protagonisten zeitlich linear verfolgen, andererseits durch die Erwähnung vieler Zeitgenossen eine horizontale Ebene herstellen.
Doch so ganz blickt man nicht durch, über Ferdinands persönliche Situation ohne geschlechtliche Liebe (?), über seine Situation bei Reimer, über seine Armut, besonders in Wolfenbüttel, obwohl er dort neue Arbeit fand, aber vier Wochen vor seinem Tod in einem Brief an seine Brüder, im Nachhinein ein Abschiedsbrief, schreibt: „Seit sieben Jahren besteht Sommer und Winter meine einzige Nahrung aus nichts andern als Brot und Blutwurst, diese trage ich oft, wenn es hier keine giebt aus Braunschw. in der Tasche heim...“, wenn er wiederholt um Geldzahlungen der wohlhabenden Brüder bittet, wozu die Verfasser auf Seite 380 anmahnen, daß es eigentlich keine Geldbettelei gewesen sei, wenn Ferdinand sich an die Brüder wandte, weil ihm das Erbe, hauptsächlich das der Tante aus Kassel, genauso wie den Brüdern Carl und Ludwig Emil nie ausgezahlt wurde, sondern bei den beiden Ältesten blieb, die bei Bedarf abgaben. Und es ist auch den Briefen geschuldet, daß wir den ‚armen‘, den ‚fremden‘ Ferdinand immer wieder als Objekt empfinden, weil über ihn geschrieben und geurteilt wird und nicht von ihm selbst in seinem eigenen Leben. Die Autoren machen das Beste daraus und wir sind froh drum.
P.S.
I. Es paßte nicht in den Text, aber bei der Beschäftigung mit den insgesamt neun Kinder, acht Jungen und ein Mädchen,die Dorothea Grimm geboren hatte, fällt einiges auf. Es waren alles Lebensgeburten, von denen aber drei, das erste, das siebte und das neunte Kind noch als Säuglinge starben, alles Buben, zwei wurden Friedrich genannt. Man beschäftig sich mit den Lebensdaten aller. Da fällt einerseits auf, daß neben Wilhelm Grimm nur noch Ludwig Emil, der Maler, und Charlotte, genannt Lotte verheiratet waren, also drei Brüder unverheiratet blieben, die Hälfte der überlebenden Kinder. Und es fällt auf, daß ausgrechnet der Älteste, Jacob, dejeniger ist, der als Letzter der Geschwister stirbt. Da macht man sich seine Gedanken.
II. Natürlich tauchen im Text die GÖTTINGER SIEBEN auf, und dabei fiel uns auf, daß in Jugendzeiten die heroische Tat dieser Sieben sehr oft der Berichte in Zeitungen wert war. Und heute? Wie erfährt heutige Jugend über solches Aufbegehren der damaligen akademischen Elite. Drum in Kurzfassung: Als nach dem Ende der Personalunion Großbritannien und Hannover 1837 der neue König von Hannover Ernst August I. ankündigte, die liberale Verfassung, das Staatsgrundgesetz von 1834, außer Kraft zu setzen, protestierten die Göttingen Sieben, sieben Hochschulprofessoren, woraufhin sie vom König entlassen wurden. Das waren
Wilhelm Eduard Albrecht, Staatsrechtler
Friedrich Christoph Dahlmann, Historiker
Heinrich Ewald, Orientalist
Georg Gottfried Gervinus, Literaturhistoriker
Jacob Grimm, Rechtswissenschaftler und Germanist
Wilhelm Grimm, Rechtswissenschaftler und Germanist und
Wilhelm Eduard Weber, Physiker.
Drei von ihnen, eine ehrende Auszeichnung von heute her, verwies der Autokrat des Landes: Friedrich Dahlmann, Jacob Grimm und Georg Gottfried Gervinus. Im Dritten Reich dagegen waren die Hochschullehrer leider überwiegend linientreu.
III. Bleibt der noch unbekanntere Bruder Carl Friedrich zu entdecken, der eineinhalb Jahre vor Ferdinand am 24.4.1787 geboren, am 25. Mai 1852 starb, von Schwester Lotte abgesehen, die aber, wie es damals Brauch war, nicht einmal eine Schulbildung erhielt. Sie war ja nur ein Mädchen bei fünf überlebenden Brüder.
Foto:
Ferdinand Grimm im Alter von 20 Jahren. gezeichnet von seinem Bruder Ludwig Emil, der eineinviertel Jahre jünger war, geb. am 14.3.1790 - 4.4.1863, also die Zeichnung mit 18-19 Jahren fertigte, S. 315 im Buch
Das ist der Umschlag des Originalbands, aber das rote Lesebändchen findet sich auch im Extradruck. Es hat uns beim Hin- und Herblättern gute Dienste geleistet!
©die-andere-bibliothek.de
Info:
Heiner Boehncke, Hans Sarkowicz, Der fremde Ferdinand. Märchen und Sagen des unbekannten Grimm-Bruders, mit einem Vorwort und einer biographischen Erkundung von Heiner Boehncke und Hans Sarkowicz. Bereichert mit zahlreichen Abbildungen, als Extradruck der Die Andere Bibliothek, Berlin 2020
www.die-andere-biliothek.de
Info:
Heiner Boehncke, Hans Sarkowicz, Der fremde Ferdinand. Märchen und Sagen des unbekannten Grimm-Bruders, mit einem Vorwort und einer biographischen Erkundung von Heiner Boehncke und Hans Sarkowicz. Bereichert mit zahlreichen Abbildungen, als Extradruck der Die Andere Bibliothek, Berlin 2020
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