flucht dichterAuf die Schnelle: Gute Sachbuchliteratur, gebraucht, Teil 107 - EXIL I

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Es gibt kaum ein Thema, das mich mein Leben lang so begleitet, wie die Flucht deutscher Dichter und Denker, Künstler und Wissenschaftler vor den Nazis, wobei man bei allem Schrecklichen, das vielen widerfuhr, immer froh war, daß sie überhaupt überlebt haben und nicht wie so viele andere ihrer Profession in den Vernichtungslagern der Nazis ermordet wurden.

Es ist also ein Spannungsfeld, gespeist aus Zufriedenheit über ihre Flucht, aber auch ein tiefer Schmerz über deren Gehenmüssen, was immer noch vielen Deutsche nicht als ihren eigener Aderlaß verstehen, daß nämlich die Besten aus den Künsten, aus Literatur, Kunst, Musik, Film flohen sowie die Wissenschaftler – und Deutschland um diese Menschen und ihre Taten verarmt zurückgeblieben und von den primitiven ‚arischen‘ Schriftstellern u.a. gelangweilt wurden.

DIE FLUCHT DER DICHTER UND DENKER. Wie Europas Künstler und Wissenschaftler den Nazis entkamen von Herbert Lackner,

Als im Jahr 2017 Herbert Lackner zusammenfassend diesen Band veröffentlichte, war das Thema Flucht und Flüchtlinge in der Bundesrepublik so präsent, wie seit den Dreißiger Jahren nicht. Nur in umgekehrter Richtung. Aber wie damals die aus dem Nazi-Deutschland Flüchtenden für die meisten Deutschen Verräter waren, so waren die gekommenen Flüchtlinge für viele „Wohlstandsabsahner“, eben Wirtschaftsflüchtlinge, für Reaktionäre sogar die Übernahme des christlichen Abendlandes durch den Islam.

Aus dem Dritten Reich kannten wir gelungene Fluchten wie die exemplarisch von Thomas Mann, die von Eric Kandel, schon direkt nach dem Krieg oder erst jüngst zur Kenntnis genommen und von uns beschrieben, halbgelungene Fluchten, wie TRANSIT von Anna Seghers als Roman, die sich selbst nach Mexiko retten konnte, etc., also Einzelfluchten. Lackner kommt von der anderen Seite und bringt von DER ERSTE SCHUSS, Danzig, 1. September 1939 die Bedingungen innerhalb Deutschlands während des 2. Weltkriegs, die Flüchtlinge in Schüben produzierten. Wie die Fluchten aussahen, wie Flüchtlinge „sich über Gebirgszüge schleppten, die auf klapprigen Kähnen über die Weltmeere fuhren, an Grenzzäunen scheiterten, in Städten verzweifelt um Aus- und Weinreisepapiere kämpften, die von ihren Kindern getrennt wurden, ihre Eltern auf der Flucht verloren und manchmal in jenes Land zurückgeschickt wurden, aus den sie geflohen waren und wo sie der Tod erwartete.“ Sehr zutreffend hat der Autor im Vorwort sein Vorhaben beschrieben.

Und auch, wenn wir uns erst wehrten dagegen, sozusagen ein name-dropping zu bieten, so sind doch die Namen derer, um die es in diesem Buch auf den verschiedenen, knallhart vorgestellten Fluchtwellen gehen wird, für unser kulturelles Gedächtnis gar nicht oft genug zu nennen: Thomas, Heinrich, Erica und Golo Mann, Franz Werfel, Alma Mahler-Werfel, Sigmund Freud, Alfred Polgar, Lion Feuchtwanger, Salvador Dalí, Ödön von Horváth, Alfred Döblin, Joseph Roth, Robert und Einzi Stolz, Stefan Zweig, Max Ernst, Erwin Piscator, Hannah Arendt, Anna Seghers, Friedrich Torberg, Bertolt Brecht, Marc Chagall, Oskar Karlweis, Walter Benjamin, Karl Farkas, Billy Wilder, Friedrich Adler, Hermann Leopoldi und viele andere. Aber schon zuvor waren viele mit der Machtübernahme der Nazis in guter Vorausschau geflohen: Billy Wilder, Fritz Lang, Ernst Lubitsch, Erich Wolfgang Korngold, Kurt Weill und Arnold Schönberg, Albert Einstein, Max Horkheimer und Theodor Adorno. Wobei man deutlich konstatieren muß, daß wir das Exil, das die Asylanten fanden, immer in den USA, Mexiko und Südamerika verorten. Die, die in den Osten, in die UdSSR gingen, um die geht es weniger und auch weniger um die, die im Norden Europas überlebten wie Willy Brandt u.a..

Erste Station war fast immer Frankreich, lange Paris bis zur deutschen Besetzung, aber auch die Mittelmeerküste. Klassisch dann die Flucht zu Fuß über die Pyrenäen nach Spanien, von dort nach Portugal, von Lissabon nach New York. Allerdings gibt es einen großen Unterschied zur Situation der Flüchtlinge nach Mitteleuropa im Höhepunkt 2015 (Merkel: „Wir schaffen das“) , daß deren Flucht nur gefährlich durch die Umstände ihrer Flucht und geringe Geldmittel und Wucherer als Fluchthelfer wurden, aber keiner in den Heimatländern sie aufhielt. Die Nazis dagegen hatten an allen Flüchtlingsorten ihre Spitzel, selten sogar unter den Flüchtlingen selbst. Folge war die Deportation in die KZs!

Übereinstimmend dagegen waren und sind Vorbehalte in den aufnehmenden Ländern, die zudem ja ebenfalls Quotenregelungen erlassen hatten. Heute wird vor einer Islamisierung gewarnt, damals hat der Antisemitismus – fälschlich hat man jeden Flüchtling für jüdisch gehalten, aber Gott sei Dank haben auch andere aus politischen Gründen die Flucht gewählt – zugeschlagen. Aber schon wird uns der Vergleich unangenehm, denn die Voraussetzungen, zum einen politische Verfolgung, zum anderen bei den meisten wirtschaftliche Gründe, sind einfach zu unterschiedlich. Aber die Folgen sind ähnlich!

Was an diesem Buch fasziniert, sind die Informationen über die Fluchten vor den Nazis, wie beispielsweise die Umfrage von April 1939 über die Stimmung der USA unter der Fragestellung: „Sollten die USA mehr Flüchtlinge aus Europa aufnehmen, die vor dem Nationalsozialismus fliehen? Die Antworten wurden nach Religionen sortiert: Protestanten, Katholiken, Juden und machen einen Heutigen schauern!

JA sagen nur 6,3 Prot., 8,3 Kath., aber 69,8 Juden (wo man eigentlich auch 100 Prozent hätte erwarten dürfen).

NEIN sagen 85,3 Prot., 84 Kath, und 25, 8 Prozent der Juden.

Das muß man sich mal vorstellen! Noch verheerender eine Umfrage aus dem selben Jahr, wo es um die Aufnahme von 10 000 Kindern jüdischer Herkunft aus Europa in amerikanische Gastfamilien geht: 62 Prozent sagen NEIN, nur 30 JA, 8 Prozent haben keine Meinung.

Dieses Buch gefällt deshalb so, weil es eine Melange hinbekommt, aus Einzelschicksalen und den sich im Krieg verschärfenden Verhältnissen für gelungene Fluchten. Man möchte alles zitieren, weil wir Paris am 3. September 1939 nicht im Blick hatten. Der Wiener Alfred Polgar, der vor dem Anschluß im März 1938 emigriert war, während Hermann Broch von der Gestapo verhaftet wurde, steht im Mittelpunkt, der, wie wir lesen, wie andere von Marlene Dietrich finanziell unterstützt wurde.

Machen wir es kurz: Wer sich für deutschsprachige Emigranten, wer sich für die Verfolgungspolitik der Nazis interessiert, muß dieses Buch lesen, in dem auch der Fluchthelfer, der Flüchtlingsretter Valerian Fry gewürdigt wird.

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Cover

Info:
Herbert Lackner, Die Flucht der Dichter und Denker. Wie Europas Künstler und Wissenschaftler den Nazis entkamen, Ueberreuter Verlag 2017
ISBN 978 3 8000 7680 2