Bildschirmfoto 2021 04 27 um 01.24.36Auf die Schnelle: Gute Sachbuchliteratur, gebraucht, Teil 111, EXIL V

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Anders als die bisherigen Bücher, die im Nachhinein über die Flucht deutscher Künstler in Wort und Bild und ihr vorübergehendes Exil an der französischen Mittelmeerküste berichten, ist dies ein Roman und doch keine echte Fiktion, denn die Autorin Helen Wolff (1906-1994) verarbeitet darin ihre eigenen Erlebnisse, die einerseits pikant sind, weil sie als heimliche, sehr junge Geliebte des schon damals arrivierten Kurt Wolffs (1887-1963) ihre Wurstigkeit, daß dieser zu Hause eine Frau und zwei Kinder hatte, spüren läßt, andererseits dies durch Scheidung und Eheschließung mit Wolff gut bürgerlich ausging.

Nein, der Roman hätte mich nicht gefesselt, wenn es nicht diese Personen gewesen wären und deshalb hat die Großnichte Helen Wolffs auch gut daran getan, den Umschlag, in dem die Schriften der Helen Wolffs jahrzehntelang ruhten und auf dem vom Vernichten die Rede war, zu öffnen, zu bewahren und den mit 116 Seiten schmalen Roman mit einem aufschlußreichen Entstehungshintergrund von fast 100 Seiten zu veröffentlichen. Ich gestehe, daß mir das Nachwort wichtiger wurde, weil es faszinierende Menschen in unmenschlichen Zeiten zum Leben erweckt.

Der Roman reiht sich ein in das Phänomen, wie das Frauenbild der Zwanziger Jahre, die Neue Frau, literarischen Niederschlag findet, wie die Romane von Marieluise Fleißer, Christa Anita Brück, Irmgard Keun u.a. zeigen, die man allesamt der Neuen Sachlichkeit zuordnen kann, was auch für Helen Wolff gilt, die über eine emotional sicherlich schwierige Liebesgeschichte ziemlich rational berichtet, wobei es eben sehr undramatisch ist, daß eine junge Geliebte ihren viel älteren Geliebten im Ausland sitzen läßt, weil er dann doch gar zu sehr auf sich und seine Gewohnheiten bezogen ist und sie das nicht nötig hat, daß sie nicht als Subjekt geliebt und wahrgenommen, sondern als Objekt behandelt, der Sammlung von Frauen als Zeitvertreib einverleibt wird.

So auf jeden Fall nimmt man das Dargestellte wahr, das im Sommer 1932/33 spielt, als in Deutschland die Vorboten des Faschismus schon gefährlich flackern und ein körperlich und seelisch angegriffener Verleger mit seiner Angestellten und Geliebten in erholende Ferien, ja in Kur fährt, an die geliebte, entspannende Mittelmeerküste Frankreichs.

Im Roman kommen sie alle vor, die Orte, wo sich später die Flüchtlinge niederlassen und man erfährt eben auch, daß viele von ihnen sich schon traditionell in den Sommern zuvor dort aufgehalten haben, weshalb sie auch zu Exilorten wurden. Die Gegend war vertraut.

Sie fahren im Auto los und freuen sich auf das Ziel, aber bei den Gesprächen wird schon deutlich, daß sich beide etwas Unterschiedliches vorstellen. Er, der Grandseigneur will im Hotel absteigen, sie: „Nein, es muß ein Häuschen sein. Und es soll auf einer Wiese stehen, und eine weiße Katze soll auf dem Brunnen sitzen, und sie soll schnurren...“, er spricht zu ihr als dem ‚geliebten Kind‘, sie schreibt ihm nach zwei Wochen den Abschiedsbrief an den „Lieben Freund“ und fährt mit dem Zug nach Hause.

Doch unterwegs trifft sie einen, der sie motiviert, wieder auszusteigen und in der Gegend von Saint Tropez zu bleiben. „Wie man sich bettet, so liegt man“, ist nun die Devise. Denn sie hat ja nicht viel Geld und man liest interessiert, wie sich die junge Frau in der Fremde zurechtfindet, ihr ersehntes Häuschen findet, für das sie Möbel organisiert und sich mit den wenigen Menschen ihrer Umgebung anfreundet. Und als es am schönsten ist, kommt er durch amouröse Erlebnisse geschlagen zu ihr. Der Sommer ist vorbei. Sie fahren zurück.

Tatsächlich ist als Nachwort DER HINTERGRUND DES HINTERGRUNDS von Marion Detjen für den Leser das Spannendere, denn sie erzählt, wie es weiterging mit Kurt und Helen Wolff, zu der sie 1933 wurde und damit nicht nur zur Ehefrau, sondern zu einer kongenialen Verlegerin. Das ist ein Lebensweg, der anrührt.

Dem Weidle Verlag ist für diese Entdeckung zu danken.

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Info:
Helen Wolff, Hintergrund für Liebe, Roman, Mit einem Essay von Marion Detjen zum Hintergrund des Hintergrunds, Weidle Verlag 2020
ISBN 978 3 938803 96 7