Angelika Klüssendorf ist die 40. Stadtschreiberin von Bergen-Enkheim

 

Eric Fischling und pia

 

Frankfurt am Main (Weltexpresso)- Hierzulande kennt man das Stadtschreiberhaus in Bergen-Enkheim natürlich gut. Denn immerhin hat der Brauch, jährlich eine andere Dichterin, einen anderen Schriftsteller in dieses Haus einzuladen, eine Tradition seit 1994. Nun gibt es eine neue Bewohnerin: Angelika Klüssendorf. Die nahe Berlin lebende Autorin darf damit für ein Jahr das kleine Häuschen im Stadtteil bewohnen. Pflichten hat sie keine, der Preis schenkt ihr kreative Freiheit - und das macht diesen Titel so einzigartig.

 

 

Sie hat fürs Überwintern schon ihren „halben Haushalt“ im Bergen-Enkheimer Stadtschreiberhaus - hier sieht man sie beim Befestigen des Namensschildes - abgeladen. „Stiefel, Pullover, Decken“ und – ganz wichtig – „einen Koffer mit Büchern zum Entspannen“. Was in Angelika Klüssendorfs Fall heißt: Flauberts „Madame Bovary“ und Stendhals „Rot und Schwarz“. Dann wären da noch all die wohl duftenden Gewürze zu nennen, welche die Autorin mit Wohnsitz in einem 200-Seelen-Dorf bei Beeskow nahe Berlin mitgebracht hat, weil sie so gerne fantasievolle selbst erfundene Gerichte kocht.

 

Und ist Angelika Klüssendorf mit ihrem Roman DAS MÄDCHEN auf einen Schlag aufgefallen als eine Erzählerin, die sich auch an die 'harten' Themen heranwagt, wie es ein junges Mädchen einfach ist, das in der DDR aufwächst und sich einen Teufel um Überwachung und Wohlverhalten kümmert, sondern für sich herausholt, was zu holen ist und dabei eine durchaus auch kriminelle Kraft entwickelt, die direkt aus den Büchern kommt, aus ihrem Lesestoff, ob das nun 'Brehm's Tierleben“ ist oder die Grimmschen Märchen. Immer kann sie der häßlichen Gegenwart ihre Vorstellung von dem Paradies auf Erden entgegensetzen, nur ein klein bißchen Garten, Haus und Frieden. Belohnt wurde der Roman durch seine Plazierung auf der kurzen Liste zum Deutschen Buchpreis.

 

 

Ein Autor braucht Freiheit

 

Ein Jahr lang wird Angelika Klüssendorf, die bis zu ihrer Übersiedlung in den Westen 1985 in der DDR lebte, kostenlos im Bergen-Enkheimer Stadtschreiberhaus wohnen und arbeiten. Dazu gibt es vom Literaturpreisausrichter, der Kulturgesellschaft Bergen-Enkheim, ein Preisgeld in Höhe von 20.000 Euro. An beides sind seit Gründung des Stadtschreiber-Preises durch den Bergen-Enkheimer Franz Joseph Schneider, Autor der Gruppe 47, keinerlei Bedingungen geknüpft. Es gibt weder Leistungsdruck noch Pflicht zu dauernder Präsenz. "Ein Autor braucht Freiheit" lautet die Überzeugung. Von Beginn an bis heute. Was das Bergen-Enkheimer Stadtschreiberamt maßgeblich von anderen unterscheidet, die nach dem Frankfurter Vorbild in anderen Städten eingerichtet worden sind.

 

 

Das namenlose Mädchen

 

Bei Klüssendorfs Antrittsbesuch war Dackel Hugo noch mit dabei, „stellte in Bergen-Enkheim jede Menge Unsinn an und entzückte die älteren Damen des Stadtteils“. Auch wenn die 55-Jährige erst wenige Tage im Stadtschreiberhaus verbracht hat, beendete sie hier bereits die Fortsetzung ihres Romans „Das Mädchen“. War ihr Mädchen im ersten Roman noch namenlos, gibt es sich als junge Frau jetzt einen selbst gewählten Namen: April, so wie auch der Romantitel lautet. Im Februar wird „April“ erscheinen. Warum sie ihre Protagonistin einen ganzen Roman lang namenlos ließ? „Das Mädchen“, sagt Angelika Klüssendorf, „steht für viele Mädchen, es sollte kein Einzelmädchen sein“.

 

 

Literatur als Trost

 

Die Geschichte ist düster, spielt in der DDR. Das Mädchen lebt bei der Mutter, hat einen kleinen Bruder. Der Vater, ein Alkoholiker, ist meist abwesend. Die Kinder sind sich überlassen, Wärme und Geborgenheit erfahren sie nicht. Ihr Alltag wird geprägt von der Unberechenbarkeit der Mutter, ihren Depressionen, Gewaltausbrüchen, den wechselnden Männern. Das Mädchen stiehlt, kommt in ein Heim, in der Schule stellt es unbequeme Fragen, warum es etwa das Land nicht verlassen dürfe. Die anderen Kinder hänseln es wegen seiner mageren Gestalt. Es flüchtet sich zu Hemingway, Zola und Balzac, für deren Romanfiguren es allergrößte Zärtlichkeit empfindet. Schließlich macht das Mädchen eine Lehre als Rinderzüchterin und wird Melkerin in einer Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft. Klüssendorfs literarische Helden haben es nicht leicht. Wärme, echte Zuneigung und emotionale Sicherheit erfahren sie nur selten. Doch Opfer kann man die Protagonisten in den Erzählungen und Romanen der Autorin nicht nennen. So wie das Mädchen in ihrem gleichnamigen Roman, schaffen sie keline Fluchten, entwickeln Überlebensstrategien und eine ganz eigene Stärke.

 

 

Das grollende Lachen der Wirtin

 

Was sie als Nächstes während ihres einjährigen Stadtschreiberdaseins schreiben wird, das weiß Angelika Klüssendorf noch gar nicht so genau. Erzählungen womöglich, wie sie es bereits getan hat, oder etwa doch wieder einen Roman? „Es gibt da ein Thema das mich herausfordert“, sagt Angelika Klüssendorf, „aber davon wissen noch nicht einmal meine Freunde etwas." Im östlich gelegenen Frankfurter Stadtteil fühlt sie sich wohl, wegen „der großen Gastfreundschaft der Menschen dort“. Vor allem Dragi, die Wirtin des Lokals Zur Alten Post, hat sie in ihr Herz geschlossen. „Dragi, die, so hörte ich, per Gerichtsbeschluss ab 22 Uhr nicht mehr lachen darf“. Wo sie doch, wie Angelika Klüssendorf findet, „so ein großes, schönes, grollendes Lachen lacht“. Ihr gefallen jedoch nicht nur die Menschen in Bergen, sondern auch „die wunderbaren Streuobstwiesen, eine Landschaft wie aus alten Zeiten“.

 

 

Die Nähe im Bierzelt

 

Daß die Kulturgesellschaft Bergen-Enkheim ihre Stadtschreiber im Bierzelt während des Berger Marktes ernennt, also auf eine für den herkömmlichen Literaturbetrieb ungewohnt rustikale Weise, kommt ihr „sehr gelegen“. Sie nennt das Ganze „eine schöne Erfindung, schließlich will ich ja, dass man meine Bücher liest“. Dass fast tausend Menschen ins Zelt passen, hat sie genossen, diese „so ganz andere Nähe zu so vielen Menschen, die schließlich freiwillig gekommen sind, um mich zu erleben“. Einen Unterschied zwischen E– und U-Kultur macht sie sowieso nicht: „Es gibt nur gut oder schlecht Gemachtes."

Geprägt haben Angelika Klüssendorf, die mit 16 Jahren ihre ersten Gedichte und Erzählungen schrieb, Rilke, Celan und Else Lasker-Schüler, deren literarischen Stil sie damals zu „imitieren“ suchte, wie sie sagt. Im Laufe der Jahre entwickelte sie ihre ganz eigene Art zu schreiben. 1990 erscheint der Erzählband „Sehnsüchte“, 1994, ebenfalls bei Hanser, der Band „Anfall von Glück“. Ihr erster Roman mit dem Titel „Alle leben so“ erscheint 2001. In den Folgejahren kehrt Angelika Klüssendorf wieder mit „Aus allen Himmeln“ und „Amateure“ zum Erzählgenre zurück. Die zweifelsfrei größte Aufmerksamkeit schenkte das offizielle Feuilleton ihrem 2011 bei Kiepenheuer & Witsch publizierten Roman „Das Mädchen“. Er schaffte es in die Shortlist zum Deutschen Buchpreis.

 

 

Akzeptanz für Außenseiter

 

So wie ihre junge Protagonistin wuchs auch Angelika Klüssendorf über Jahre hinweg in einem Heim auf, mehr aber möchte sie über die eigene Kindheit und Jugend nicht erzählen. „Ich will nicht, dass mein wirkliches Leben mit meinen Büchern verflochten wird“, sagt sie, und dass der Autor hinter seinem Werk zurücktreten sollte. Wenn sie genügend Geld hätte würde sie „nur schreiben“ und ein Leben im Kreis ihrer Freunde führen. Doch dann sagt die Schriftstellerin auch wieder Sätze wie „man kann den literarischen Betrieb allerdings auch spielerisch betrachten“. So wie „ein Großraumbüro, das man für eine Weile durchaus mal betreten kann“.

Was sie sich von ihren Lesern wünscht, ist „mehr Akzeptanz“ für Menschen abseits geordneter wohlbehüteter Lebenswelten. Dass man in solchen Fällen immer alles nur als tragisch, als „hartes Leben“ betrachtet, kann sie nicht nachvollziehen. Klüssendorf sieht es als „Selbstverständlichkeit“ an, dass es ganz unterschiedliche Lebenswege gibt, es geht „ganz einfach nur um das Minus oder das Plus auf der Linie“. Die Würde eines Menschen, sein Wert – für Angelika Klüssendorf kommt es nur darauf an „inwieweit die Persönlichkeit etwas Faszinierendes hat“.

 

 

INFO:

 

Die neu gewählten Stadtschreiber stellen sich traditionell mit einer Antrittslesung im Stadtteil vor. Angelika Klüssendorf hält ihre literarische Begrüßung am Mittwoch, 4. Dezember, um 19 Uhr in der Nikolauskapelle, Marktstraße 56, in Bergen-Enkheim. Sie ist damit die 40. Stadtschreiberin von Bergen-Enkheim und diese runde Zahl feiert die Kulturgesellschaft mit einer Ausstellung "Der schönste Preis". Sie wird ab dem 30. Januar bis zum 13. März 2014 in der Zentralbibliothek der Stadtbücherei, Hasengasse 4, gezeigt. Der Eintritt ist frei.