leopoldSerie: Leo-Perutz-Preis für Kriminalliteratur 2021, Teil 5

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Heiß ist es im Wien von 1966. Heiß ist es auch heutzutage. Ansonsten hat sich sehr viel verändert, sehr viel. Aber wer das Wien von gestern kennt, fühlt sich in diesem Roman sofort zu Hause und für die Jüngeren mag es gut sein, von den gesellschaftlichen Kämpfen von gestern zu lesen und ein Verständnis zu gewinnen, daß es heute nur um andere Objekte geht, es im Kern aber dieselben Auseinandersetzungen sind wie damals, sprich: man muß dazu eine Position gewinnen, eine Haltung!

Im Ernst. Trotz einiger Ärgernisse nebensächlicher Art, ist dieser dritte Krimi von den fünfen der Endauswahl derjenige, dem ich bisher den Leo-Perutz-Preis zuspräche. Ich habe ehrliche Bewunderung für die Rechercheergebnisse von Sabina Naber, die ein Wien von 1966 aufscheinen läßt, wie es nicht nur im Buch steht, sondern wie es war. Ich weiß, wovon ich spreche, denn ich kenne die Stadt von damals, auch wenn unser familiärer Schwerpunkt nicht der Zweite Bezirk, sondern der IX. und XIV. war. Mit der Recherche meine ich nicht die immer wieder eingeflochtenen Tagesereignisse, die eher äußerlich das Jahr 1966 behaupten, sondern ich meine die sozialen Verhältnisse wie auch die ohne Scham geäußerten Meinungen der Leute. Ja, so waren die Wiener immer noch, die Deutschen als Teufel genauso verdammend wie sie als Nazis viel zu viel zu verehren und ihnen nachzueifern. So wurden wir damals in Oberösterreich (Hallstätter See) begeistert begrüßt: „Die Reichsdeutschen sind wieder da!“

Eine politisch-gesellschaftliche Gemengelage, weil es auch die anderen gab, die, damals vor allem in der SPÖ, für demokratische Verhältnisse sorgten und einen exilierten jüdischen Österreicher 1966, also elf Jahre nach dem Staatsvertrag, der Österreich den neutralen Bundesstaat bescherte, zum österreichischen Außenminister machten, der dann von 1970 an sogar 13 Jahre österreichischer Bundeskanzler war: Bruno Kreisky. Ehrlich gesagt, nicht zu verstehen, daß sich die Autorin diese Steilvorlage entgehen ließ, denn sie zeigt, daß trotz aller restaurativen Verhältnisse Österreich damals gesellschaftspolitisch weiter war als die Bundesrepublik Deutschland, wo mit Willy Brandt – wie Kreisky im Exil in Schweden, wo dann der Dritte im Bunde, Olof Palme Ministerpräsident wurde – zwar mit sehr viel Häme der Ewiggstrigen aber doch ab 1969 ein Exilant Bundeskanzler werden konnte, aber damals sicher noch kein deutscher Jude wählbar gewesen wäre!

Natürlich gibt es auch eine Geschichte dazu, aber mir scheint die historische und menschliche Authentizität, die der Autorin gelingt, das Ereignis dieses Romans zu sein. Mit dem literarischen kriminalistischen Personal hatten wir anfangs unsere Schwierigkeiten, bzw. mit deren Dienstauffassung. So vieles was daneben geht, so vieles, was versäumt wird. Aber am Schluß wird alles nach und nach in die Bahnen gelenkt und aufgeklärt und der Leser versteht im Nachhinein alles.

Also: Ein toter Schwarzer wird am einbetonierten Wienfluß aufgefunden. 1966. Natürlich, damals sagte man Neger und es ist richtig, daß die Autorin auch so schreibt; sie müßte sich im Nachwort dafür nicht entschuldigen, denn für die abwertenden Bezeichnungen für Schwarze mußten ganz andere Wörter herhalten. Dieser Tote hat US-Soldatenstiefel an, aber die US-Botschaft will ihn nicht kennen. Am Schluß wissen wir auch, warum. So ist das halt, wenn man den Bock zum Gärtner macht. Er bleibt nicht der einzige Tote. Aber erst der zweite wird auf den Täter verweisen. Das ist eine interessante Variante der Aufklärung, die Chefinspektor Wilhelm Fodor nach mehreren Fehlversuchen dann doch gelingt. Dabei läßt die Autorin uns immer dicht bei seinen Ermittlungen, bei denen er die Stärken seiner Mitarbeiter einsetzt, deren Schwächen uns die Autorin aber auch vermittelt. Sehr fehlbare Mitarbeiter, die zudem alle ein ganz schön derbes Wienerisch reden. Aber das ist genau das, was meine Wiener Mama 1966 feststellte, daß der heimische Dialekt in den Jahren ihrer Abwesenheit breiter geworden war.

Was auch für die Autorin spricht, ist ihre differenzierte und differenzierende Personendarstellung. Natürlich gibt es auch die reinen Nazis und die echten Demokraten. Aber es gibt eben auch einen wie Fodors Ersten Assistenten Fischer, formal ein Rechter wie er im Buche steht, aber gleichzeitig ‚a Mensch‘, einer, der nicht nach Ideologien fragt, sondern mit kleinbürgerlichem faschistoiden Hintergrund dennoch auf die eigentlich Abgelehnten emotional positiv reagieren kann. Solche Brechungen zeichnet auch andere Personen aus. Auch die Geschlechterverhältnisse sind gut beschrieben. Damals, also genau 1966, gab es die erste Ministerin der Republik, was öffentlichen Aufruhr verursachte und pejorative verbale Begleitung. Die Sache mit den Männern und den Frauen bleibt in der Geschichte virulent; daß sich allerdings ständig „die Männlichkeit“ regt, geht einem sprachlich irgendwann auf die Nerven.

Wir haben die eigentliche Geschichte selbst kurz gehalten, weil sie komplex und kompliziert zugleich sich gegen eine kurze Wiedergabe sträubt. Aber daß auch das faschistische Franco-Spanien und die Beteiligung von Österreichern am Widerstand, den Internationalen Brigaden, eine Rolle spielt und sogar Kinderraub und -verkauf Teil der Handlung wird, ist ganz schön ambitioniert, aber die Rechnung geht auf. Am Schluß versteht man alles.

Dies ist der zweite Krimi um den Ermittler Chefinspektor Wilhelm Fodor und ich bin so beeindruckt, daß ich mir den ersten umgehend besorgen werde. 

P.S. Eine Besonderheit muß ich noch weitergeben, weil es für mich wirklich etwas Besonderes war und ich – leider – erst sehr spät beim Lesen darauf kam und mich deshalb kontrollieren konnte. Was das heißt? Ganz einfach. Im Buch wird dauernd gegessen und getrunken. Dauernd. Im Dienst müssen die Kommissare ständig im Buschenschank, in Wirtschaften, in Gasthäusern, in Beiseln... ermitteln, oder auf Märkten und wenn sie Freizeit haben, essen sie auch. Die meisten Sachen mag ich gar nicht, die Fleisch- und Knackwürste, die Würste aller Art, die Schnitzel, aber dann Käsebrot und Kuchen....auf jeden Fall ist mir erst am nächsten Tag nach Zweitdrittel der Lektüre aufgefallen, daß ich einer absoluten Freßattacke verfallen war, die ich seit Pubertätstagen nicht kannte und mir nicht erklären konnte, dann aber durch einem Geistesblitz erfaßte, das war unterbewußt nur die Fortsetzung meiner Lektüre. Das ständige Essen hatte ich nachgemacht...und schon hatte ich es im Griff. Spät, aber nicht zu spät: Darum lesen Sie das Buch am besten tief im Wald, fern von jeglichen Speisen!


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Info:
Sabina Naber, Leopoldstadt, Emons Verlag 2021,
ISBN 978-3-7408-1136-5