Frick Die blaue Stunde 72 dpiHans Fricks autobiografischer Roman „Die blaue Stunde“

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Der Schriftsteller Hans Frick, der am 3. August 1930 in Frankfurt geboren wurde, ist leider in Vergessenheit geraten.

Seine Bücher, zwischen 1965 und 1980 erschienen, sind seit Jahren vergriffen, darunter auch die einst viel diskutierte „Blaue Stunde“. In diesem Roman beschreibt der Autor sein ständig bedrohtes Leben als nichteheliches Kind einer einfachen Arbeiterin und eines jüdischen Kunsthändlers, die nur eine sehr kurze Liaison miteinander verbunden hatte. Nach den Rassekategorien der Nazis war Hans Frick „Halbjude“, eine Identität, die er zu verschleiern trachtete. Denn ihm war klar, was drohte, würde seine Abstammung entdeckt werden.

Im Zentrum der Romanhandlung steht das mühselige und entbehrungsreiche Leben der Mutter, die als „Judenhure“ verunglimpft wurde und unter schweren Krankheiten litt. Um Denunziationen der Nachbarn zu entgehen, zogen Mutter und Sohn von der Ginnheimer Straße im Frankfurter Stadtteil Bockenheim ins industriell geprägte Gallusviertel. Ihre kleine Wohnung lag unweit der Adler-Werke, einem Rüstungsbetrieb, wo während des Zweiten Weltkriegs Juden und Zwangsarbeiter ausgebeutet, misshandelt und nicht selten ermordet wurden.

Hans Fricks dokumentarische Erzählung ist nicht nur ein Zeitzeugnis, sondern erfüllt auch hohe literarische Maßstäbe. Inhaltlich ist sie mit Valentin Sengers „Kaiserhofstraße 12“ vergleichbar. Es bleibt ein Geheimnis der offiziellen und inoffiziellen Frankfurter Kulturinstitutionen, warum „Die blaue Stunde“ bis heute nicht als fester Bestandteil einer städtischen Erinnerungskultur gewürdigt wird.
Die Jury von „Frankfurt liest ein Buch“ hielt zwar die Geschichte einer Prostituierten (Erich Kuby: Rosemarie, des deutschen Wunders liebstes Kind) und die Erinnerungen eines Demokratieskeptikers (Martin Mosebach: Westend) für lesenswert, nicht aber Fricks „Blaue Stunde“. Obwohl sie gut passen würde zur „Kaiserhofstraße 12“, Silvia Tennenbaums „Straßen von gestern“ und zu Anna Seghers‘ „Das siebte Kreuz“.

Auf den ersten Seiten erfährt der Leser die Motivation des Autors zu dieser offenen Selbstreflexion:

„Meine Mutter starb nach qualvollen Schmerzen am 18. November 1958 um 6:30 Uhr. Als ihr Kopf zur Seite gefallen war, schloss ich die Tür zu und setzte mich neben sie. Ich starrte so lange auf das gelbliche Gesicht der Toten, bis es langsam eine bläuliche Färbung annahm. Nach einiger Zeit hatte sich das ganze Zimmer blau gefärbt. Ich ging durch blaue Schleier ins Nebenzimmer und stellte mich ans Fenster: auch die Bäume und Sträucher des Parks waren blau, wie das schwefelnde Licht über allem.“

Achtzehn Jahre danach bricht Frick einen Brasilienaufenthalt abrupt ab, kehrt nach Frankfurt zurück und besucht das Grab seiner Mutter. Irreale Träume, vor allem Albträume, verfliegen. Realität stellt sich ein, er erinnert sich.

„Das Bild meiner Mutter hatte sich, wie mir plötzlich bewusst wird, immer weiter von mir entfernt; nun aber, nach achtzehn Jahren, kommt es wieder näher und wird mit jeder Sekunde deutlicher. Die herausragenden Merkmale ihres Lebens waren Angst, Not und stille demütigende Verzweiflung. Sie hätte es nie gewagt, auch nur das geringste Recht für sich in Anspruch zu nehmen. Sie hatte schon früh aufgegeben und sich mit ihrem Schicksal abgefunden. Eine der für ihr Leben entscheidendsten Erfahrungen hatte sie bereits 1937 machen müssen. Drohungen einiger Nachbarn, sie anzuzeigen, weil sie ein Kind von einem Juden hatte, waren der Grund dafür, dass sie eine Wohnung in einer anderen Gegend Frankfurts suchen musste und wir überstürzt auszogen. [...] Die meisten Hausbewohner reagierten ähnlich wie die Arbeitskollegen meiner Mutter. Sie duldeten uns gerade noch. Für diese Großzügigkeit hatten wir Gegenleistungen zu erbringen, die darin bestanden, dass wir ihre Vorurteile bestätigten. Nahezu unerträglich wurde die Zeit der letzten Kriegsjahre. Das Gerücht, dass ich der uneheliche Sohn eines jüdischen Vaters und demzufolge Halbjude war, trug uns den Status derer ein, an denen man sich vergreifen konnte, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden.“

Und dann folgt eine Sozialgeschichte der Armut, exemplarisch dargestellt an der Mutter, der es nie gelang, die prekären Verhältnisse, in welche sie hineingeboren worden war, zu überwinden. Sie hatte nie eine Chance, einen anderen Beruf als den der Dienstmagd zu ergreifen. Später wurde sie ungelernte Fabrikarbeiterin bei Teves in Frankfurt. Armut wird vererbt, ähnlich wie Reichtum, besonders der zu Unrecht erworbene. Der Schüler Hans Frick muss sich sogar beim Lehrer dafür entschuldigen, einen guten Aufsatz geschrieben zu haben. Talent und Können scheinen den Bessergestellten vorbehalten zu sein. Andernfalls drohen Demütigung und Prügel.

Er erlebt die Pogromnacht des 11. Novembers 1938, in der Schule muss er tags darauf die Hass- und Rechtfertigungsreden der Nazi-Pädagogen über sich ergehen lassen. Noch weiß niemand, dass er gemäß der NS-Rassenideologie die Voraussetzung erfüllt, um auf die Mordliste des Systems gesetzt zu werden. 1940, gerade zehn Jahre alt geworden, wird er aufgefordert, der Hitlerjugend beizutreten. Die Mutter kauft ihm sofort eine Uniform und den obligatorischen Dolch. Die Ausgabe muss ihr schwergefallen sein, denn das verfügbare Geld reicht kaum zum Leben. Vermutlich glaubt sie Hans innerhalb der NS-Organisation sicherer als außerhalb.

Nach dem Abschluss der Volksschule 1944 möchte er eine kaufmännische Ausbildung machen, arbeitet jedoch zunächst als Beifahrer in einer Brotfabrik. Die dort verpflichteten holländischen, belgischen und französischen Zwangsarbeiter sammeln heimlich Brot für russische Kriegsgefangene, die in den nahe gelegenen Adler-Werken ausgebeutet werden. Er beteiligt sich ohne große Gesten an den konspirativen Aktionen, die einigen Menschen das Überleben ermöglichen. Neben diesen Zeugnissen von Humanität muss er die Ermordung eines jüdischen Zwangsarbeiters mitansehen. Weil er zufällig an Ort und Stelle ist, kann er noch den Suizid seiner verzweifelten Mutter verhindern, die sich von der Camberger Brücke auf die Bahngleise stürzen will. 

Schließlich wird das Regime militärisch besiegt, aber das Gift des Nationalsozialismus lastet immer noch wie eine schwere Wolke über Frankfurt und über Deutschland. Hans‘ Leben normalisiert sich im Rahmen des Möglichen. Die Mutter kränkelt weiterhin, regelmäßig verschlimmert sich ihr Zustand. Es gelingt Hans Frick, Kontakte mit Verwandten seines verstorbenen Vaters in Ungarn aufzunehmen. Doch die Begegnung löst mehr Frustrationen aus, als dass sie offene Fragen beantworten könnte. In Frankfurt wird er wegen einer Unregelmäßigkeit von der amerikanischen Militärverwaltung zu einer Haftstrafe verurteilt. Er muss sie in einer Jugendanstalt verbüßen. Erst am Jahresende 1946 wird er vorzeitig entlassen.

In den letzten Kapiteln des Romans beschreibt Hans Frick vor allem das gesundheitliche Auf und Ab seiner Mutter, die 13 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs stirbt. Ein Opfer ihrer sozialen Herkunft und ein Opfer der politischen Umstände.

Er selbst hat sich bis 1964 als Büroangestellter und Handelsvertreter beruflich durchgeschlagen. Danach lebte er als freier Schriftsteller in Frankfurt und Portugal. Sein Werk ist, gemessen an der Zeit, die ihm dafür blieb (ab 1980 schrieb er nicht mehr), sowohl umfangreich als auch literarisch bemerkenswert. Von der Mitte der 1960er bis zur Mitte der 1970er Jahre war er wegen seiner Art, die NS-Vergangenheit Deutschlands exemplarisch zur Sprache zu bringen, ein viel gefragter Autor. Fricks präzise, schnörkellose Diktion bedarf keines aufgesetzten Nachsinnens, seine Texte erklären sich selbst und beeindruckten wegen ihrer Eindringlichkeit sowohl die damaligen Leser als auch die seinerzeitige Literaturkritik.

Hier die Liste seiner Buchveröffentlichungen:

Breinitzer oder Die andere Schuld. Rütten & Loening, München 1965
Der Plan des Stefan Kaminsky. Rütten & Loening, München 1967
Das Verhör. Taxi für Herrn Skarwanneck. Stufen einer Erinnerung. Heinrich-Heine Verlag, Frankfurt a. M. 1969
Henri. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1970
Mulligans Rückkehr. Luchterhand, Neuwied 1972
Tagebuch einer Entziehung. Luchterhand, Darmstadt 1973
Dannys Traum. Bertelsmann, München etc. 1975
Die blaue Stunde. Bertelsmann, München 1977; 2. Auflage Steinhausen, München 1979
Die Flucht nach Casablanca. Steinhausen, München 1980

Der Unfalltod seines zehnjährigen Sohns, den er im Roman „Henri“ verarbeitete, löste eine Lebenskrise aus. Er wurde alkoholabhängig (literarisches Zeugnis dieses Abgleitens ist sein „Tagebuch einer Entziehung“). Am 3. Februar 2003 starb er nach längerer Krankheit in Huelva/Spanien. Seine Bücher sind ausweislich des „Verzeichnisses lieferbarer Bücher“ vergriffen.

Foto:
Cover der 2. Auflage „Die blaue Stunde“
© Steinhausen Verlag, München
Die Urheberrechte an den zitierten Abschnitten liegen bei den Verlagen C. Bertelsmann und Steinhausen.