TotenarztinblutSerie: Leo-Perutz-Preis für Kriminalliteratur 2021, Teil 6

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – „Inzwischen öffnete Franz das Herz mit ein paar gezielten Schnitten, sodass die beiden Kammern, Vorhöfe und die Herzklappen zu sehen waren. Fanny konnte gerade noch das Obduktionsformular zur Seite legen, ehe Franz ihr das bluttriefende Herz in die Hand drückte. Für einen Moment hielt es es, als sei es ein kostbares Juwel, besah sich die Herzklappe und die durchtrennte Aorta. Meine Maschine dieser Welt war so raffiniert wie diese kleine Pumpe und ihre Druckausgleichsfunktion. ‚Wunderschön!‘“

So spricht Fanny, die. obwohl promovierte Ärztin, als Prosekturgehilfin an der Gerichtsmedizin in Wien zufrieden sein muß, daß sie überhaupt dort beschäftigt wird. Ja, die Gerichtsmediziner, die Pathologen, die Rechtsmedizin und Forensik haben Hochkonjunktur in den Krimis, in Büchern oder im Fernsehen, aber René Anour – was wie ein Pseudonym ingtkl – beschert uns mit Fanny Goldmann eine junge Ärztin im Jahr 1908! Und das hat schon Seltenheitswert. Inwieweit diese Fanny ihre sehr ausführlich geschilderten Obduktionen zeitgemäß ausführt und auch die jeweiligen Todesursachen – in der Regel ein spezielles Gift, das sie nachweisen kann – auf dem Stand der Wissenschaft vor über 110 Jahren klärt, können wir nicht überprüfen, aber im Ernst sind diese naturgemäß blutigen Schnitte ins Fleisch und die Eingeweide mit allen Erkenntnissen, die sich daraus gewinnen lassen, der größte Gewinn beim Lesen dieses historischen Kriminalromans. Echt.

Wie kommt es, daß nicht nur die historischen Kriminalromane schon länger Hochkonjunktur haben – ich erinnere mich, daß ich schon vor 20 Jahren mit Peter Tremayne ein Interview führte, der seit den 90er Jahren inzwischen an die 30 Keltenromane über die irische Schwester Fidelma verfaßt hat, die die Morde aufklärt – sondern daß in der österreichische Hauptstadt, dem ehemaligem Zentrum des viele Völker umfassenden Habsburger Reiches besonders gerne historischen Krimis spielen. Das kann man gut verstehen, hat doch auch Graham Greene mit DER DRITTE MANN, insbesondere als Film mit Orson Welles, das Morbide des Nachkriegsösterreichs herausgestellt und dabei, so wie jetzt Anour, das Unterirdische von Wien als Tatort nutzt. Dabei geht es bei ihm nicht um das 2 400 km lange Kanalnetz, sondern um eine Untertunnelung zwischen Burg und Burgtheater, aber es gibt auch unterirdische Friedhöfe, Keller, Bunker, eigentlich ist die ganze Stadt untertunnelt und bietet Anour für die weiteren Krimis viele Möglichkeiten. Denn anders als Tremayne ist dies der erste Krimi um die Totenärztin Fanny, dessen zweiter schon für Oktober angekündigt ist, was auch nötig ist, denn der erste endet mit der Entführung der guten Freundin von Fanny, und – wir sind ganz sicher – daß auch diesem weitere folgen werden.

Der 400 Seiten Krimi liest sich sehr flüssig und es war wirklich ernst gemeint, daß die praktische und pragmatische Arbeit auf dem Seziertisch ein großer Gewinn für den Leser an subtileren Kenntnissen der Pathologie bedeutet. Jetzt weiß ich auch, was ‚zyanotisch‘ oder ein Morphintoter sind. Die Schilderungen über die gesellschaftliche Situation, insbesondere die der Frau als recht- und chancenlos in einer dominierenden Männergesellschaft gehen dagegen über Herkömmliches nicht hinaus, sind andererseits das eigentliche Movens der Hauptfigur der ‚Totenärztin‘, die ja erst eine Rechtsmedizinerin werden will, was wir sicher in den nächsten Krimis verfolgen können.

Ihr erster beginnt damit, daß sie heimlich zuerst einen, dann einen zweiten Toten obduziert, der zwar von der Polizei in Person des unsympathischen Kaltenecker in der Gerichtsmedizin abgeliefert wird, aber gleich mit der Diagnose Selbstmord und mit der Maßgabe, ihn nur äußerlich anzuschauen und auf keinen Fall aufzuschneiden, woran sich ihr unmittelbarer Vorgesetzter Franz Wilder und erst recht der Institutsdirektor Professor Albin Kuderna strikt halten. Na so was? Das gibt‘s, bzw. das gab‘s? Und natürlich bildet dies Verbot den Auftakt für den Einsatz der jungen Frau, der dann die aus der Tasche des ersten Toten fallende ‚fingerlange‘ Statuette des Walzerkönigs in purem Gold in die Augen fällt, in der ein Zettel eingerollt ist, der ein Datum, Uhrzeit und Ort enthält.

Der Tote kann den Termin nicht mehr wahrnehmen, aber wie neugierig und tatendurstig die 25jährige Fanny ist, zeigt uns ihr Auftauchen an diesem Ort, wo sie zwar nicht wirklich erfährt, um was es geht, aber immerhin von einem Mann, den sie Blaumeise nennt und der sich später als guter Polizist herausstellt, vor Schüssen gerettet wird. Den Roman durchzieht diese erst Ab-, dann Zuneigung , ehrlich gesagt, sehr konventionell.

Andere Personen und auch Personenkonstellationen sind dagegen ungewöhnlich und am ungewöhnlichsten die Figur, die sich am Schluß als der eigentliche Verbrecher herausstellt. Lieber Autor, diese Person war für mich spätestens seit dem 2. Auftauchen im Buch Täter! Die Geschichte geht ein wenig wie „Der Herr der schickt den Jockel aus“, so daß der arme Mörder immer weiter morden muß, weil stets ein weiterer Mitwisser seiner Morde wird. Kommen wir zur Kaiserin Elisabeth, die 1898 von einem italienischen Anarchisten ermordet wurde, was Ausgangspunkt für das Mordgeschehen zehn Jahre später in Wien ist. Ehrlich gesagt, ist auch diese Thematik etwas abgegriffen. Andererseits werden im Roman sehr viele familiäre und mitmenschliche Problematiken deutlich angesprochen, was über herkömmliche Krimis hinausgeht. Darum sind wir auch sicher, daß die Serie um die Totenärztin mit Erfolg weitergeht.

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Info:
René Anour, Die Totenärztin. Wiener Blut, Rowohlt 2021
ISBN 978-3-499-00558-9