KrimiZEIT-Bestenliste in ZEIT und NordwestRadio für Dezember 2013, Teil 1

 

Claudia Schulmerich

 

Hamburg (Weltexpresso) – „Die Zahl der Opfer rechtsextremer Gewalt in Deutschland ist unter Umständen 14mal höher als bisher offiziell verlautbart. … es sind...bei der Überprüfung von 3300 bislang ungeklärter versuchten oder vollenden Tötungsdelikten zwischen 1990 und 2011 in 746 Fällen Anhaltspunkte 'für eine mögliche politische rechte Tatmotivation' gefunden. Die bislang ungelösten Verbrechen mit insgesamt 849 Opfern sollen nun von den Polizeibehörden noch einmal geprüft werden. Die offizielle Statistik der Bundesregierung führt bisher lediglich 63 Morde mit rechtsextremistischem Hintergrund auf.“ Das berichtet am heutigen Tag die Frankfurter Rundschau auf Seite 6.

 

 

Man hält den Atem an, wenn man Friedrich Anis neuen Roman um Tabor Süden und die Detektei Liebergesell liest, in der im bürgerlichen Mief versteckt, eine durchorganisierte Münchner und bayerische Naziszenerie zum Vorschein kommt, schaut man nur in die Wohnungen und hinter die Vorhänge und Verstecke, die sich diese Leute um sich aufbauen. Man kann gar nicht anders, als den Roman als Begleitung zu den NSU-Morden und dem Prozeß in München zu verstehen. Das ist das eine. Das andere ist, daß Friedrich Ani einen tieftraurigen Roman geschrieben hat, in dem die Versehrtheit aller, der Täter und der Opfer und erst recht die der ermittelnden Mitarbeiter der Datei offenliegen. Und zwar liegen deren Wunden so offen, daß man beim Lesen schlucken muß, denn von einem Krimi erwartet man zwar Einsichten, von der Spannung ganz abgesehen, aber eben doch nicht eine derartig unter die Haut gehende, eigentlich jede Hoffnung auf gesellschaftliche Veränderungen, das heißt: Verbesserungen aufgebende Gewißheit.

 

Auch der folgende Rundschausatz könnte direkt aus dem Roman stammen: „ „Er, Benjamin G., habe dann noch mit einem 'Heinz' zusammengearbeitet, aber nicht mehr lange. Ein Ermittlungsverfahren laufe, sagte Heinz, jener hätte die 'Schüsse hören müssen, denn jeder normale Mensch hat ja Ohren'.“ Hier geht es um den V-Mann Andreas T., der sich im Münchner Prozeß hinter Erinnerungslücken verschanzt, aber nachweislich am Tatort in Kassel war. Auch in M – das wohl für München steht, aber natürlich den Film von 1931 M - Eine Stadt sucht einen Mörder von Fritz Lang mit Peter Lorre als Mörder im kulturellen Gedächtnis aufblitzen läßt - haben wir einen verschwundenen V-Mann als Helden. Das löst sich erst ganz am Schluß auf und geht übel aus, aber erst einmal will die blitzsaubere Journalistin – sie ist xmal durchleuchtet worden, weil sie mit einem Rechtsextremen verheiratet war, der seit 10 Jahren im Untergrund lebt und trotz Polizeisuche nicht gefunden wird – nur ihren Freund zurück, der von einem auf den anderen Tag verschwunden ist.

 

Sie äußert sich zwar sehr verhalten, diese 38jährige Mia Bischof, über ihre Beziehung zu diesem Mann namens Siegfried Denning, überhaupt bleibt einem diese Frau so etwas von fremd, weil irgendwie emotionslos, aber immerhin erteilt sie am 30. Januar der aus dem Internet gefundenen Detektei Liebergesell den Auftrag in der Gewißheit „jedes Honorar für die Suche nach ihrem Liebsten zu bezahlen. Das Ausmaß ihrer Selbsttäuschung hätte sie niemals für möglich gehalten.“(Seite 21) Das sind so zwei Ani-Sätze hintereinander, die aufzeigen, wie hin und her uns dieser Autor schüttelt, denn er webt in die Erzählung immer schon die Erfahrungen mit dem, was sich entwickeln wird, ein, was bewirkt, daß man als Leser auf unsicherem Boden und jedes Wort aufnehmend,aufmerksam sehr langsam lesen muß, um wirklich das Geschehen zu durchschauen.

 

Was heißt das Geschehen? Noch schwieriger scheint erst einmal, die durch die Mitarbeiter der Detektei heraufbeschworenen Handlungsfäden miteinander zu verbinden und gleichzeitig zu entwirren. Da gibt es die Chefin Edith Liebergesell, die an diesem Tag wie an jedem ihres vor zehn Jahren ermordeten Kindes gedenkt, ein Mord, der nie aufgeklärt wurde, am achtjährigen Ingmar, der immer in Leonard Kreutzers Schreibwarengeschäft seine Schulsachen holte, der nun als Rentner Mitarbeiter in ihrer Kanzlei am Sendlinger Tor-Platz wird, wie auch Tabor Süden, der Ex-Polizist, wozu noch die junge Patrizia Roos stößt. Sie alle werden vom Wirbelsturm, den der Suchauftrag auslöst, erfaßt und nicht alle überleben.

 

Die andere Seite, nein, nicht die der Verbrecher, die im gutbürgerlichen Milieu zu Hause scheinen, sondern die der offiziellen Ermittler, der Kriminalpolizei und des Staatsschutzes, hier Landeskriminalamt LKA, scheinen im übrigen nicht weniger durch das Leben beschädigt und vor allem nicht an einem Strang zu ziehen. Schnell erlebt man das Einzelkämpfertum und das gegeneinander Arbeiten der beiden Institutionen, ein Gewirr, das als erster Tabor Süden, der namengebende Träger des Romans: ein Tabor-Süden-Roman – durchschaut und in dessen Charakterisierung wir uns geradewegs in den Gerichtssaal in München versetzen.

 

Mehr wollen wir hier eigentlich nicht erzählen, von diesem Roman, der auch deshalb so traurig macht, weil er keine Antwort gibt, wie das alles zu verhindern ist. Das einzige bißchen Hoffnung steckt eben darin, daß man jeden Tag wach durch sein eigenes Leben geht und nachfragt, wenn einem etwas nicht geheuer mit anderen Menschen erscheint. Nicht nur nachfragt, sondern nachdenkt. Und Menschen wahrnimmt, wie es Tabor Süden unnachahmlich vormacht. Beispielsweise auf den Seiten ab 153, wenn er zur Nachbarin des verschwundenen Denning, Rosa Weisflog, kommt, die er zur Mitwisserin seines Einbruchs in der verwaisten Denningschen Wohnung macht, die vom V-Mann-Führer des vermuteten V-Manns schon längst durchsucht wurde – nicht gut genug, das nur am Rande.

 

Das sind funkelnde Dialoge, an denen man auch sprachlich seine höchste Freude hat, und auf einmal sind auch diese beiden Figuren durch ihre Lebensgeschichten längst miteinander verwoben: denn auch Frau Weisflog hat vor 13 Jahren ihren Mann suchen lassen: „'Einer wie Sie hat ihn dann gefunden, weil ich gsagt hab, daß er gern zu dem Kiosk radelt und da sein Bier trinkt, direkt an der Isar beim Zoo.'“...“'Das war nicht einer wie ich', sagte Süden. 'Ich habe Ihren Mann gefunden'“. Es war ein Selbstmord. Nicht der einzige im Roman und es bleibt auch nicht bei einem Mord und einem Totschlag. Aber, sie werden aufgeklärt und im Verlauf dessen auch der am Sohn der Edith Liebergesell, das bleibt auch als Hoffnung und zeigt, daß im Leben alles zusammengehört. Fortsetzung folgt.

 

 

Die KrimiZEIT-Bestenliste Dezember 2013

 

 

Lfd.

Nr.

Rang

Vor-monat

Titel

1

1

(3)

Friedrich Ani: M

Droemer, 366 S., 19,99 €

München. Der Geliebte einer Lokaljournalistin ist verschwunden. Tabor Süden und seine Kollegen aus der Detektei geraten in die Spinnennetze bayerischer Nazis. Ihre Recherche führt in einen Strudel der Vernichtung. Ungeheuer.

2

2

(5)

Lee Child: 61 Stunden

Aus dem Englischen von Wulf Bergner

Blanvalet, 448 S., 19,99 €

Gefängnisstadt Bolton, South Dakota. Schneesturm, tödliche Kälte. Jack Reacher beschützt eine Kronzeugin. Die lokale Polizei ist durch Ausbrecher abgelenkt. Ziel aller Umtriebe: ein geheimes Lager der Air Force. Bizarr, doppelbödig, hoher Suchtfaktor.

3

3

(-)

John le Carré: Empfindliche Wahrheit

Aus dem Englischen von Sabine Roth

Ullstein, 400 S., 24,99 €

Gibraltar/London/Cornwall. Unverwechselbar der Sound, kristallklar der Blick: Mit 82 schreibt John le Carré tough wie je. Public-private-Partnership in puncto Sicherheit: Die Unschuldigen enden als Kollateralschäden, die Aufrechten ohne Chance. Der Terror gedeiht.

4

4

(6)

Garry Disher: Dirty Old Town

Aus dem Englischen von Ango Laina u. Angelika Müller

Pulp Master, 332 S., 13,80 €

Melbourne. Erneut hat sich Profi-Verbrecher Wyatt mit Angebern und Gierschlünden eingelassen. Ein simpler Überfall auf einen Juwelier wird zum Kampf um Beute, Rache und eine starke Frau. Der hartgesottene Wyatt verblüfft durch Empfindsamkeit.

5

5

(-)

Martin Cruz Smith: Tatjana

Aus dem Englischen von Susanne Aeckerle

C. Bertelsmann, 320 S., 14,99 €

Kaliningrad/Moskau. Journalistin Tatjana wurde vom Dach gestürzt. Ihre Leiche ist weg. Arkadi Renko, Leitender Ermittler wie schon in Gorki Park, stöbert ganz rücksichtslos in Putins Gier- und Geierparadies Monströses auf.

6

6

(2)

Ana Paula Maia: Krieg der Bastarde

Aus dem Portugiesischen von Wanda Jakob

A1 Verlag, 222 S., 18,80 €

Brasilien. Eine Tasche voll Koks, eine Beinprothese, ein bigotter Profikiller, ein Pornodarsteller, eine Starregisseurin, ein Pudel, eine Boxerin im Danse grotesque des brasilianischem Großtstadtalltags. Zum Schreien präzis choreographiert. Furioso!

7

7

(-)

Dennis Lehane: In der Nacht

Aus dem Englischen von Sky Nonhoff

Diogenes, 592 S., 22,90 €

Boston/Ybor, Florida. Joe Coughlin kann keiner was. Denkt er. Dann fickt ihn Emma Gould, er landet im Knast, und wäre er nicht doch recht clever, hätte er es danach nicht zum Alkoholschmugglerkönig gebracht. Prohibitions-Panorama: Gangster bauten die Nation mit.

8

8

(-)

Jo  Nesbø, Koma

Aus dem Norwegischen von Günther Frauenlob

Ullstein, 624 S., 22,99 €

Oslo. Im zehnten Band des Harry-Hole-Epos erwacht ein Mann aus dem Koma. Und stirbt doch. Derweil mahnt ein fanatischer Mörder Polizei-Versagen an. Er kopiert ungelöste Mordfälle und killt die Ermittler, die sie verbockt haben. Überbös.

9

9

(1)

Jerome Charyn: Unter dem Auge Gottes

Aus dem Englischen von Jürgen Bürger

Penser Pulp bei Diaphanes, 286 S., 16,95 €

New York/Texas 1988. Isaac Sidel ist designierter Vizepräsident der USA. Die Bronx wird an die Army verscherbelt. Um sie zu retten, fightet Sidel mit dem letzten jüdischen Gangster. Band 11 des größten Crime-Mythos der Gegenwart. Charyn lesen ist Rausch.

10

10

(-)

 

Robert Crais: Strasse des Todes

Aus dem Englischen von Jürgen Bürger

Heyne, 412 S., 9,99 €

Los Angeles/Anza-Borrego-Wüste. Zufällig werden Jack und Krista mit einem Trupp von illegalen Einwanderern entführt. Elvis Cole und Joe Pike greifen zu radikalen Rettungsmaßnahmen. Don Winslow ebenbürtig.

 

 

 

 

INFO:

 

Die monatlich erscheinende Krimi-Bestenliste existiert seit März 2005, als sie erstmals auf der Leipziger Buchmesse, damals noch als KrimiWelt-Bestenliste vorgestellt wurde. Von März 2011 an wird sie regelmäßig an jedem ersten Donnerstag des Monats in der Wochenzeitung DIE ZEIT als KrimiZEIT-Bestenliste veröffentlicht. Diesmal der Buchmesse im Oktober wegen schon am letzten Donnerstag im September.

Vorgestellt wird die KrimiZeit-JahresBestenliste

- im NordwestRadio am Donnerstag, den 5. Dezember 2013 mit Tobias Gohlis gegen 8.10 Uhr im Nordwestradio Journal sowie später in den Sendungen der Literaturzeit, nachzuhören unter http://www.radiobremen.de/nordwestradio/serien/krimizeit/index.html

in der Wochenzeitung DIE ZEIT am 5. Dezember 2013 und unter www.zeit.de/krimizeit-bestenliste

Monatlich wählen siebzehn auf Kriminalliteratur spezialisierte Literaturkritiker aus Deutschland, Österreich und der Schweiz aus der Masse der Neuerscheinungen die zehn Titel aus, denen sie viele Leser wünschen. Das Beste vom Besten: Immerhin erscheinen übers Jahr verteilt über 1200 Kriminalromane auf Deutsch. An jedem ersten Donnerstag im Monat geben Literaturkritiker und Krimispezialisten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz die Kriminalromane bekannt, die ihnen am besten gefallen haben. Sie halten nach dem literarisch interessanten, thematisch ausgefallenen, besonderen Kriminalroman Ausschau. Die besten Zehn werden mit Bibliographie und Kurzbeschreibung hier veröffentlicht.

 

 

 Die Jury setzt sich zusammen aus: 

 

Tobias Gohlis, Hamburg, Kolumnist DIE ZEIT, Moderator und Jury-Sprecher der KrimiWelt

Volker Albers, Hamburg, Hamburger Abendblatt, Herausgeber „Schwarze Hefte“
Andreas Ammer, „Druckfrisch“, Dlf, BR

Gunter Blank, Sonntagszeitung

Thekla Dannenberg, Perlentaucher
Fritz Göttler, München, Süddeutsche Zeitung
Michaela Grom, Heidelberg, SWR
Lore Kleinert, Bremen, Radio Bremen
Kolja Mensing, Berlin, Tagesspiegel
Ulrich Noller, Köln, Deutsche Welle, WDR
Jan Christian Schmidt, Berlin, Kaliber 38
Margarete v. Schwarzkopf, Köln, NDR
Ingeborg Sperl, Wien, Der Standard
Sylvia Staude, Frankfurt/M., Frankfurter Rundschau

Jochen Vogt, Elder Critic, NRZ, WAZ
Hendrik Werner, Bremen, Weser-Kurier
Thomas Wörtche, Berlin, Kolumnist, Plärrer , culturmag, DradioKultur

 

 

In der Regel kommentieren wir die von der Jury neu plazierten Krimis. Alle weiteren plazierten Krimis der Vormonate entnehmen Sie bitte unseren Krimi-Besprechungen in den vormonatlichen Artikeln, die Sie unter Kultur. Bücher oder unter dem Autorennamen im Archiv finden. Das Prozedere der Platzverteilung ist ganz einfach. Dreimal darf ein Kritiker aus der Jury einen Roman benennen. Wenn das gut verteilt ist, kann ein Buch einige Monate überwintern, dann hat es nur noch die Chance, in der Jahresbestenliste wieder aufzutauchen, die Ende Dezember herauskommt. und die wir für 2012 ebenfalls kommentierten und auf die von 2013 warten. 

 

http://weltexpresso.tj87.de/index.php/buecher/1208-der-beste-krimi-2012-bleibt-von-fred-vargas-die-nacht-des-zorns-aus-dem-aufbau-verlag

 

http://weltexpresso.tj87.de/index.php/buecher/1208-der-beste-krimi-2012-bleibt-von-fred-vargas-die-nacht-des-zorns-aus-dem-aufbau-verlag