Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Sie war die Dritte, diejenige vor der Pause, die ihren Roman vorstellte und die man als gespannte Feder wahrnahm, als die Moderatorin Bianca Schwarz ihr einige Brocken hinwarf, so daß sie gleich mit dem Eigentlichen anfing. Das nämlich liegt in der Vergangenheit, wo sie vor zwanzig Jahren dieses Buchprojekt anfing und es dann liegen ließ. Zwanzig Jahre eben. Aber die Thematik ist dieselbe. Ihr ging es im doppelten Sinne um Machgefälle: politisch das von Westeuropa abfallend zu Osteuropa, wie auch das zwischen Mann und Frau in derselben Richtung.
Eine weitere Frage galt dem Anfang. Wie fängt man einen Roman an? Gibt es da überhaupt Rezepte? Für Strubel kann der Anfang nur mit der Figur geschehen, die den Roman anschließend tragen muß. Adina also, die wir als 12jährige kennenlernen, gelangweilt und sich alleine fühlend in ihrem tschechischen Heimatdorf, eben dort, wie ich schrieb, wo auf der anderen Seite der Grenze Polens zum heutigen Tschechien die starken militanten naturverbundenen Frauen leben. Sicher, eine Fata Morgana, aber doch eine schöne Vorstellung. Dort hat das Mädchen den mächtigen Čertova hora vor Augen, wenn sie aus dem Dachfenster aufs Riesengebirge schaut, und das Rattern der Skilifte, das noch im Schlaf über ihre Schädeldecke zieht, dringt zu ihr und in sie hinein, auch wenn sie das nicht möchte.
Aber, wer genau liest und auch den Erzählband UNTER SCHNEE gelesen hat, den die Autorin vor zwanzig Jahren herausbrachte, der kennt Adina von dort. Und schon wieder bewahrheitet sich für diesen Abend die Tatsache, daß eine Figur, die im Repertoire der Autorin schon vorhanden war, ein Eigenleben und eine eigene Geschichte erhält. Das fällt schon auf, daß es bei so vielen der letzten Sechs so ist. So hat sich Strubel mit Stipendium in Helsinki gefragt, was ist eigentlich aus Adina geworden? Das Thema ergibt sich aus ihrer Geschichte. „Ich fing an, mich an sie ranzuschreiben.“
Und dann erzählt sie in Kurzform: tschechischer Kurort, vor vielen Jahren nach Berlin, dort in die Uckermark als Praktikantin, schwere Vergewaltigung durch einen bekannten Kultur-Guru, flucht nach Helsinki, im Inneren erstarrt, Starre Unterscheidung von Innenwelt und Außenwelt, die Wahrnehmung der Außenwelt ersetzt die nicht nachstellbare Innenwelt.
Adina lernt in der Bar des Hotels, in dem sie schwarz arbeitet, Leonides kennen, einen attraktiven, fürsorglichen, erfolgreichen, eloquenten Estländer, der EU-Abgeordneter ist und sich ab jetzt um Adina kümmert. Sie sind schicksalhaft über Dunkelstellen des staatlichen Terrors und gemeinsamer Gewalterfahrungen verbunden.
Nach einer Lesung der Romanstelle, die eine Szene zwischen Leonides und Adina bringt, wird nach der Blauen Frau gefragt, die dem Buch den titel gibt. Denn die Geschichte der Adina in Helsinki wird immer wieder von der Blauen Frau unterbrochen, in der diese auf Fragen antwortet oder auch ungefragt Hinweise gibt. Ein Überich. Nein, ein Drittes, eine Figur, die der Autorin selbst in Helsinki begegnet ist. Und wie sich herausstellt, sind es die Gespräche zwischen Blauer Frau und der Autorin, die hier wiedergegeben sind.
Für sie ist die Blaue Frau wichtig, weil sie ihr deutlich machte, welchen unterschiedlichen historischen Hintergrund Menschen aus dem Osten und dem Westen haben. Für Deutschland gilt, wer in der DDR aufgewachsen ist, wie die Autorin, hat eine andere Erinnerungskultur in sich aufgenommen als jemand im Westen. Diese unterschiedlichen Erinnerungskulturen währen weiter in Ost-und Westeuropa.
An dem Roman hat Antje Rávik Strubel acht Jahre gearbeitet, mit einer eineinhalbjährigen Pause. Sie treibt an, dagegen anzuschreiben, daß wir Diebstahl härter bestrafen als Körperverletzungen und noch kein Sensorium haben, wie mit sexualisierte Gewalt umzugehen ist.
Die vielen Namen der Adina stehen für die vielen Teile in ihr. Und der Letzte Mohikaner war ihr Codename im einem Chat als Jugendliche, den sie in Helsinki wieder aus der Mottenkiste holt und sich mit diesem Namen stärker macht.
Foto:
Antje Rávik Strubel und Bianca Schwarz
©Petra Kammann
Antje Rávik Strubel und Bianca Schwarz
©Petra Kammann