Serie: Der Deutsche Buchpreis 2021, hier die Auswahl der Zwanzig, Teil 23
Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Nein, Nina interessiert mich nicht so. Mit dieser Ich-Erzählerin beginnt der Roman , der dann nach sechs Seiten aber durch den auktorialen Erzähler abgelöst, uns mit Lena konfrontiert, deren Leben als Vorschulkind im östlichen Bereich der Ukraine, damals Teil der Sowjetunion, in den Siebzigern mit einem Detaillreichtum geschildert wird, die die Atmosphäre von Enge, von Überwachung, von Kleingeistigkeit, von Korruption nicht nur in Worten herstellt, sondern einen grauen, kleinbürgerlicher Alltag wie Blei über alles legt.
Keine Luft zum Atmen, aber zum Denken auch nicht, oder woran liegt es, daß so wenig Gedanken im Roman auftauchen, stattdessen das Aufwachsen der jungen Lena uns erst ein Kind, dann ein junges Mädchen zeigt, das festgefahren in Vorgefundenem sehr brav die Erwartungen der Eltern zu erfüllen versucht. Nein, nein, das ist keine Kritik, sehr stimmig werden die Verhältnisse, die niemanden zum Tanzen bringen, geschildert, konsequent aus der Sicht des Kindes, des jungen Mädchens. Da geht es also erst um Freundschaft, die Annäherung an eine andere im Kindererholungsheim, wobei von Aljona an, die nach Sanddorn riecht, im ganzen Roman die olfaktorische Wahrnehmung von Lena eine besondere sinnliche Begabung zeigt. Sie erschnüffelt an den Menschen die unglaublichsten Gerüche, ihr Geruchssinn ist derart komplex, daß sie für jeden, der in ihrem Leben wichtig wird, den zugehörigen Geruch bestimmen kann – und es fast zwanghaft auch tut.
Schon als Kind will sie Ärztin werden, was auch daran liegt, daß ihre Mutter mit schweren Migränen durch eine Ärztin durch falsche Medikamente fehlbehandelt wird. Das meint zumindest Lena, geklärt wird die Krankheit der Mutter nach deren frühem Tod nicht. Doch sie ist die Ursache dafür, daß Lena Neurologie studieren wird. Das ist zwar einsichtig, aber es wäre auch eine interessante Variante gewesen, sie hätte mit ihrem ausgeprägten olfaktorischen Sinn Osmologie oder Osphresiologie studiert. So aber wird ihr das Leiden der eigenen Mutter als Motivation für das Neurologiestudium für ihre Professorin zum Verhängnis. Sie muß wechseln und wird Dermatologin. Da allerdings verdient sie – das sind ja nicht nur Hautkrankheiten, sondern besonders die Geschlechtskrankheiten, wo Verschwiegenheit viel wert ist - noch sehr viel mehr nebenbei. Nebenbei? Ja, eine der härtesten Passagen sind für mich diejenigen, wo sich die einzelnen Patienten, hier die Eltern, das Geld vom Munde absparen, um dicke Geldbündel den Ärzten unterzuschieben, in des Wortes wahrer Bedeutung, nämlich in einer Tüte mit Äpfeln versteckt, denn das System der Korruption bedingt ja Heimlichkeit, daß keiner die Bestechung merkt, von der man sich bessere Medizin, echtes Interessen und ernsthafte Untersuchungen verspricht.
Im Kontext wird im Roman die Korruption auf das gesellschaftliche System des Staatssozialismus – Kommunismus war nie, Sozialismus auch nicht, soll man autoritäres System sagen? - zurückgeführt. Dazu habe ich eine Anmerkung, eine Erinnerung. Denn es erinnert mich gänzlich an dasselbe System im Habsburgerreich, das ja bis in die heutige Ukraine schwappte. Noch in den Neunziger Jahren hatte meine Wiener Tante zu jedem Jahreswechsel ihren Ärzten Briefumschläge mit Geld überreicht, dazu selbst gemachte Marmelade. Und wahrscheinlich ist dies sogar ein Verhalten der leicht besser Gestellten, das im Europa des 19. Jahrhunderts gang und gebe war und was sich heute in der Differenzierung private Krankenversicherungen und Kassen wiederfindet.
Das sollte nur ein Beispiel sein dafür, zu wieviel Anregungen dieser Roman neben seiner Handlung Anlaß bietet, so daß wir ihn beispielhaft als einen kulturgeschichtlichen Roman bezeichnen wollen, weil er einer historischen Zeit ein Gesicht gibt, auch wenn es häßlich ist. Obwohl Lena nicht unbedingt eine interessante Person ist, zu wenig wissen wir um ihr wirkliches Innenleben, dies ist kein psychologischer Roman!, liest man mit großem Interesse und großer Intensität die Seiten bis 215, wo Lenas Geschichte, jetzt in der Ukraine in den Neunziger Jahren endet. Denn sie ist, nach einer etwas mehr als verunglückten Liebesgeschichte mit einem Tschetschenen , von diesem schwanger, was Verehrer Daniel, der ewig Gute, wiedergutmacht, indem er sie heiratet und das Mädchen Edita ihn zum Vater hat. Daniel ist jüdisch, was auch immer das bedeutet, heißt es jedoch, daß man als sogenannter Kontingentjude in den Westen, hier Deutschland ausreisen konnte. Die Familie landet in Jena. Aus der Ärztin wird eine Krankenschwester.
Mir wäre es am liebsten gewesen, der Text hätte auf Seite 17 begonnen und hier geendet und die Autorin hätte ihre Geschichte als Erzählung tituliert. Da aber der Buchpreis dezidiert ein Romanpreis ist, wird nun jegliche literarische Form besser zum Roman. Andere Leser und Rezensenten finden zudem auch den zweiten Teil sinnvoll, in dem neben Lena auch ihre Freundin Tatjana eine Rolle spielt, übrigens die Mutter des am Anfang sprechendes Ichs, Nina. Und jetzt wird Edita, die im ukrainischen Teil nur klein und krank erscheint, zu einer cleveren jungen Frau, die Journalistin werden will, denn das Aufklären, das Reden, das Fragen, wie es war und wie es dazu gekommen ist, ist ja das, was der Generation von Lena und Tatjana fehlt und daß die jungen Leute besser machen wollen. Viel Glück!
In manchen Rezensionen konnte man oft von vier Frauen und zwei Generationen lesen. Das finde ich falsch, denn es sind mindestens drei Frauengenerationen, die in IM MENSCHEN MUSS ALLES HERRLICH SEIN, auftauchen. Denn die Mutter von Lenas Mutter spielt eine wesentliche Hintergrundrolle, sie verkörpert das ländliche Rußland zu Zeiten der UdSSR, ist bodenständig, der Natur und dem Wachsen verbunden, aber auch bereit, für Jahre angesichts der Berufstätigkeit von Lenas Eltern die Versorgung und Beaufsichtigung des Kindes über Jahre, fern ihrem Zuhause, zu übernehmen.
Wie gesagt, finde ich den ersten Teil richtig gute Literatur. Man kann eigentlich nicht verstehen, daß ein Roman wie DIE BLAUE FRAU von Antje Rávik Strubel diesem vorgezogen wurde. Zumindest unter den letzten Sechs hätte er eingruppiert werden müssen.
P.S. Daß der Titel aus Tschechows Onkel Wanja stammt, hat sich herumgesprochen.
Foto:
Info:
Sasha Marianna Salzmann, Im Menschen muß alles herrlich sein, Suhrkamp Verlagen
ISBN 978 3 518 430101