jurgen wertheimer penbuinrandomJürgen Wertheimer, Europa. Eine Geschichte seiner Kulturen, Penguin Verlag, Teil 2

Elvira Grözinger

Berlin (Weltexpresso) - Das 18. Jahrhundert, l‘Ȃge d’or der Vernunft, der Enzyklopädisten - der Autor nennt es „das Projekt der Aufklärung“, war „insgesamt das zentrale und in seiner Vielseitigkeit und Konsequenz vielleicht folgenreichste Vorhaben dieses Kontinents“ (S. 283), aber auch nicht frei von Widersprüchen. Es war nach Immanuel Kant (1724-1804) „der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“, wobei nicht zuletzt die Französische Revolution den blutigen Beweis dieser These erbrachte.

Der Engländer John Locke (1632-1704), Arzt und Philosoph, der als der Begründer des Liberalismus gilt, war der Meinung, der Mensch braucht keinen Gott, um seine eigene Urteilsfähigkeit auszubilden, er tritt aus der Dunkelheit ins Licht der Erkenntnis, die er aufgrund seiner eigenen intellektuellen Fähigkeiten erlangen kann. In diesem Jahrhundert – wie schon in der Ära der Neugier, der Renaissance, angelegt -, experimentierte man gern und stellte sich insbesondere die menschlichen Körper als Maschinen und Automaten vor, wie es der französische Arzt und Philosoph de La Mettrie (1709-1751) tat. Diese Vorstellungen nahmen die Computerentwicklung vorweg, es war ein Abschied von der christlichen Demut dem Schöpfer gegenüber.

Isaac Newton (1642-1724) war eine weitere große Gestalt dieser Zeit – in der Diktion des Autors: „Newtons Geist war eine Mischung aus Galileo Galileis Mechanik und Keplers kosmischen Gesetzen mit Böhmes Gottesglauben“ (S. 295) und genau so überraschend zieht Wertheimer Umberto Ecos Roman Der Name der Rose (1986) heran, um die „Aufklärungsmentalität“ zu definieren: „Wenn es eine Art kulturelles Gen geben sollte – die Lust am Entfalten von Gegensätzen wäre es.“ (S. 297) Des Autors Fazit lautet: „Im Ganzen gesehen, hatte die Aufklärung europaweit Fuß gefasst und ein unglaubliches Potenzial entfaltet. Kirchen und Monarchie regierten aus der Defensive [...] Die Zielkoordinaten einer freien Republik des Geistes, aber auch der Politik standen fest.“ (S. 298) Mit dem neuen Denkstil, meint Wertheimer, ist Europa unzerstörbar geworden.

Einer seiner großen literarischen Helden ist Voltaires Candide, der die Leibniz’sche Theodizee verkörpert und jede Unbill noch mit einer positiven Erklärung versieht, weswegen das Werk den Titel „Candide ou l‘optimisme“ trägt, den Wertheimer wie folgt charakterisiert: „Ja, Candide ist eine Art Theodizee-Automat, ein Glücks- und Harmonie-Neurosen-Computer [...]“ (S. 323). Als Abschluss der Aufklärung fand die große französische Revolution statt, mit dem Sturm auf die Bastille am 14. Juli 1789 und der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte am 26. August 1789 hatte sie für den europäischen Kontinent eine nachhaltige, bis heute gültige Bedeutung und sie war „zwingende Konsequenz eines langwierigen gedanklichen Prozesses“ (S. 331) – „L’etat c’est moi“ gehörte fortan der Vergangenheit an und die rebellischen literarischen Visionen – wie die Friedrich Schillers (1759-1805) – nahmen Gestalt an. 

 Wie es sich für Wertheimer gehört, war auch das 19. Jahrhundert eines der Widersprüche und „eine Art Magen, gefüllt mit allen Resten und Rudimenten vergangener Jahrhunderte. Viele hatte sich mittlerweile angesammelt und lag nebeneinander. Halbverdaut, Unverdaut [...]“ (S. 353f.) Er nennt „Aufklärung und Romantik gleichzeitig eine der Signaturen Europas“ (374). Napoleon Bonaparte hatte Europa umgestaltet und der Kontinent war nach ihm zerrissen – es kamen in den deutschen Landen die nationalistischen Töne mit Topoi von Boden, Blut und Tod in der Dichtung und dem Denken auf. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation wurde 1806 aufgelöst, in Preußen folgten Reformen.

Die romantische Bewegung vom Ende des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts in Deutschland, England und Frankreich (sie gab es auch in Polen,und Russland), als Gegenbewegung zur Aufklärung und Klassik eine Rückbesinnung auf das Mittalalter in der Literatur, Kunst, Malerei und Philosophie ging mit gesellschaftlichen und technischen Umwälzungen einher und katapultierte nicht zuletzt durch die Industrialisierung Europa in die Moderne. Wertheimer lässt hier wiederum die Literatur sprechen – Victor Hugo (1802-1885) oder William Blake (1757-1827). In den deutschen Ländern, mit Kriegen überzogen – zuletzt siegreich gegen Frankreich - kulminierte 1871 die romantisch-patriotische Sehnsucht nach Einheit in der Reichsgründung. Der Romantik folgte der Realismus. Bei Wertheimer lesen wir über die „verlorenen Illusionen“ (so der Titel eines Romans von Honoré de Balzac, 1799-1850) und seine Comédie humaine, welche unter dem Zeichen der Melancholie und Enttäuschung von vielen Schriftstellern behandelt wurden. In England war es Charles Dickens (1812-1870), der die sozialen Missstände in die Literatur einführte. Auf der anderen Seite machte sich die Gier nach Reichtum bemerkbar, die Börsenspekulanten und Geldfälscher traten auf. Karl Marx (1818-1883) verfasste dazu sein Kapital (1867). Die Zerfallserscheinungen der Moral in einer scheinheiligen Gesellschaft wurden auch zum Thema der Literatur – so wurde der Ehebruch als Versuch eines weiblichen Ausbruchs aus der Unmündigkeit von Gustave Flaubert in Madame Bovary (1856/57), von Lev Tolstoi in Anna Karenina (1873-1878) und Theodor Fontane in seiner Effi Briest (1894/95) thematisiert. Emile Zola setzte das Thema fort aber schon psychologisierend, z.B. in Thérèse Raquin (1868).

Europa schaute in die Welt, schuf sich Kolonien, Reiseliteratur entstand und Exotik war angesagt. 1901 entstand Thomas Manns Roman Die Buddenbrooks. Verfall einer Familie, in dem „er das allmähliche Korrodieren, Implodieren, Zusammenbrechen der bürgerlichen Kultur veranschaulicht: die genaue Besichtigung eines Zeitalters, des 19. Jahrhunderts.“ (S. 396). Das fin de siécle brachte die Erkundung der Seele und ihrer Abgründe, Erscheinungen wie Satanismus, Dekadenz, Ästhetizismus, Jugendstil, Symbolismus. Die femme fatale und die „Hysterikerin“ betraten die Bühne und Wien wurde das Zentrum des neuen Zeitgeistes. Dort wurde von Sigmund Freud (1856-1939) die Psychoanalyse begründet und der Seele ein fester Platz im kulturellen Bewußtsein gesichert, auf die Leinwand gebannt mit Gustav Klimts (1862-1918) opulenten sensualistischen Porträts und Egon Schieles (1890-1918) expressionistischen, oft drastischen Darstellungen menschlicher Körper zwischen Eros und Thanatos. Beide starben am 6. Februar 1918 – Klimt am Schlaganfall und Schiele an Grippe. Da gingen auch das Habsburger Reich und das deutsche Hohenzollern-Königreich zu Ende. Davor waren 4 Jahre Krieg – Wertheimer nennt den Zusammenbruch der alten Systeme: Europa implodiert, mit 20 Millionen Toten, was der Österreicher Karl Kraus (1874-1936) in seinem Drama Die letzten Tage der Menschheit (1915-1922) als Fall für die Psychiatrie beschrieb. Das aus den Fugen geratene Europa erlebte die Geburt des Kommunismus und die russische Oktoberrevolution sowie des Faschismus. Für Wertheimer: „Der Weg aus dem Weltkrieg in den Weltkrieg und weit darüber hinaus ist das Kapital, die Kapitalisierung des Krieges via Waffen, Technik, Medien, Presse, Börse, Aufbau.“ (S. 426).

Die letzten Kapitel des Buches sind dem Zweiten Weltkrieg, dem Danach, bis heute gewidmet. Wertheimer resümiert: „Von allen möglichen ‚Identitäten‘ ist die ‚europäische‘ die am wenigsten klar zu umreißende. Die Wahrheit ist, dass sich im Verlauf der langen Geschichte dieses Kontinents seine Bewohner kaum je als ‚Europäer‘ begriffen haben. Die nationale, dynastische, ethische oder religiöse Identität stand und steht meist sehr viel mehr im Vordergrund.“ (S.429) Und „ob man sich nun philosophisch, religiös oder biologisch begründet – der Rassismus gehört zu den zentralen Elementen auch des europäischen Denkens.“ (S. 432) Das Schwarz-weiß-Denken charakterisierte den durch den Eisernen Vorhang getrennten Kontinent, die Re-Ideologisierung und das Erstarken der Linken in den 1968ern Jahren auf der einen, die Erosion der Staaten des Warschauer Paktes durch Volksaufstände – Ungarn, Tschechoslowakei, Polen - welche schließlich zur Perestroika und dem Ende der Sowjetunion, der DDR und der deutschen Trennung führten.

Der europäische Gedanke begann 1950 mit der Montanunion, 1957 mit den Römischen Verträgen und der Gründung der EWG und EURATOM. Immer mehr europäische Staaten traten ihnen bei und schließlich wurde daraus 1993 die EU und ab 2002 die EURO-Zone. Der Autor konstatiert: es ist „auffällig, dass die EU sich immer dann, wenn sich gravierende Probleme einstellen, hilflos, harsch, oder ignorant verhält: Ob Griechenlandkrise, Mazedonienkonflikt, Balkankriege oder Katalonienfrage. Entweder schickt man Horden bürokratischer Controller, oder man leugnet die Zuständigkeit [...]. Ein Blick auf die Landkarte genügt, um festzustellen, dass das gegenwärtige Europa ein Territorium schwelender Konfliktzonen ist, die zu ignorierten oder zu marginalisieren der definitive Schritt in die Auflösung des Systems Europa wäre.“ (S. 470)

Die Diagnose des gegenwärtigen Zustandes lautet nach Wertheimer: „Europa selbst leidet spürbar an seinem gegenwärtigen Zustand. An seiner Unfähigkeit, mit einer Stimme zu sprechen. An seiner Entschlusslosigkeit. An seiner inneren Brüchigkeit, seiner Erstarrung.“ (S. 490) Für den Autor ist Europa ein Kontinent der Frau, in dem es Kassandras gibt, auf die es sich zu hören lohnte. Und er plädiert u.a. für Europa als Leitkultur, nicht eine, die andere belehren will, sondern als Einleitung zum Selbstdenken und zur Dialogfähigkeit, zur Übernahme der Rolle der Grenzgänger als Brückenbauer.

Es ist ein ungewöhnliches Buch, das aber zum Nachdenken anregt und zeigt, dass es lohnend ist, trotz der Bürokratie und der Fehler, die die EU hat, an dem gemeinsamen Projekt zu arbeiten und an seine Zukunft zu glauben.

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Info:
Jürgen Wertheimer, Europa. Eine Geschichte seiner Kulturen, Penguin Verlag München 2020, 574 S.