Eine persönliche Erfahrung

Klaus Jürgen Schmidt

Norddeutschland (Weltexpresso) - „Du Idiot“, rief er seinem Spiegelbild zu. „Du wolltest schreiben und hast versucht, zu schreiben, aber in dir war nichts, worüber du hättest schreiben können. Was hattest du denn zu bieten? Ein paar kindische Vorstellungen, ein paar halb gare Gefühle, sehr viel unverdaute Schönheit, einen großen schwarzen Klumpen Ignoranz, ein vor Liebe berstendes Herz und einen Ehrgeiz, der so groß wie Deine Liebe und so so nutzlos wie Deine Unwissenheit war. Und da wolltest du schreiben? Herrje, du bist ja gerade erst dabei, etwas in dich reinzukriegen, worüber du schreiben könntest.
Du wolltest Schönheit schaffen, aber wie hättest du das tu sollen, solange du über das Wesen der Schönheit nichts wusstest? Du wolltest über das Leben schreiben, obwohl du über die wesentlichen Eigenschaften des Lebens nichts wusstest. Du wolltest über die Welt und den großen Daseinsplan schreiben, obwohl dir die Welt ein chinesisches Rätsel war und alles, worüber du hättest schreiben können, nur das war, was du über den großen Plan n i c h t wusstest. Aber sei guten Mutes, mein Junge! Du wirst schon noch schreiben. Du weißt schon ein bisschen was, und du bist auf dem richtigen Weg, um mehr zu erfahren. Wenn du Glück hast, wirst du eines Tages vielleicht so weit kommen, dass du fast alles weißt, was man wissen kann. Und dann wirst du schreiben!“

Wie kann es sein, dass mich dieser Text als Zwölfjähriger fesselte? Wie kann es sein, dass ich ihn jetzt – 65 Jahre später – gesucht und wiedergefunden habe?

Weil das Buch, in dem ich ihn gelesen hatte, damals zum Selberschreiben angeregt hatte, in Schulheften, anfangs noch mit Federhalter, nach dem Unterricht in der Karl-Liebknecht-Schule zu Bernsdorf in – der DDR.

Opa Haydn – kein Verwandter, sondern ein Sonderling unter dem Dach unseres Wohnhauses an der Dresdener Straße – hatte uns Kinder nicht bloß verbotenerweise sonntags in seinem selbstgebastelten Radio den „Onkel Tobias vom RIAS“ hören lassen. Er hatte eine eigene Bibliothek mit sorgfältig eingebundenen Büchern.
Aus der hatte ich mir schon viele Karl-May-Bände geliehen, als ich schließlich entdeckte, dass mein Vater selber viele Bücher besaß – ungelesen und wohl verstaut auf dem Oberboden. Als Buchdrucker und Schriftsetzer gehörte er der „Büchergilde Gutenberg“ an und als Mitglied hatte er jahrelang wunderbar gedruckte und gebundene Bücher bezogen – und weggepackt.

Nach Karl May kam so Jack London bei mir zu Wort, gebunden in hellblauem Leinen mit golden gedruckten Titeln. Und – wenn ich mich recht erinnere – hatte ich die Lektüre jenes Bandes, der mein späteres Leben bestimmen sollte – immer wieder hinausgezögert. Beim Einlesen war klar, das war nichts von der abenteuerlichen Art des Jack London, wie ich sie schon begeistert im „Seewolf“ oder „Ruf der Wildnis“ kennengelernt hatte. Dann aber muss ich das Buch aber doch gelesen – und bis vor kurzem wieder vergessen haben.
Dann aber, vor ein paar Wochen, sah ich mir im Fernsehen die Verfilmung eines anderen Buches an, das ich ebenfalls im Haus an der Dresdner Straße gelesen hatte: „Das Kalte Herz“ von Wilhelm Hauff.
Eine – wie ich fand – packende Verfilmung des Märchens, das von einem jungen Köhler-Gesellen erzählt, der – verliebt in ein Mädchen der besseren Gesellschaft – bereit ist, alles zu tun, um in deren Gesellschaft zu bestehen. So verkauft er gegen die Zusage unbegrenzten Reichtums sein Herz an den Holländermichel im Austausch gegen einen kalten Stein. Zu spät wird er erfahren, dass all die anderen Reichen ebenfalls ihr Herz gegen einen kalten Stein eingetauscht hatten. Dabei ist er selber – wie diese – herzlos und kalt gegenüber den Nöten anderer Menschen geworden.

Die Geschichte kenne ich doch noch ganz anders, dachte ich, da war doch einer in einer ähnlichen Situation, hatte zugelangt, als vor seinen Augen ein ersichtlich wohlhabender junger Mann überfallen wurde. Mit seinen auf Segelschiffen hart erprobten Fäusten hatte er die Bande in die Flucht geschlagen. Als Dank stellte der Gerettete seinen Retter der Familie vor und damit auch seiner wunderschönen aber auch hoch gelehrten Schwester.
Aus Liebe zu ihr beginnt der Seemann sein Leben umzukrempeln. Kein „Kaltes Herz“ hatte sich Jack London dafür einfallen lassen, wusste ich gleich nach dem Fernsehfilm, sondern etwas, das mir selber Wegweisung zu dem wurde, was mir zum Beruf und – vielleicht auch zur Berufung wurde: Schreiben, Erzählen, Berichten, Begreifen ...
Ich wollte – bewusst – nicht im Internet nachsehen, ich wollte warten, bis mir der Titel einfallen würde. Ich musste nicht lange warten, eine Nacht später fand ich ihn, ihm Traum – und zu Weihnachten lag das Buch auf dem Tisch, leider nicht mehr in dieser wunderschönen Ausgabe, sondern als ein dtv-Taschenbuch:

Jack Londons „MARTIN EDEN“, neu übersetzt von Lutz-W. Wolff – der autobiografische Nachlass von John Grifith Chaney, der selbst als ungebildeter, ungehobelter, jedoch weltkluger junger Mann das Schreiben begann und als Jack London weltberühmt wurde.

Foto:
© KJS

Info:
Radio-Podcast: TROMMELN IM ELFENBEINTURM

Rezensionen zum Kalten Herz in WELTEXPRESSO
https://weltexpresso.de/index.php/kino/8269-das-kalte-herz-der-film_544_544
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/8268-das-kalte-herz-das-maerchen-von-wilhelm-hauff_544_544