Hakan Nesser verfängt sich in seinem neuesten Roman in den eigenen Fallstricken, Teil 1
Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Welche toller Anfang, wenn Leonhard Vermin zur Feier seines 70. Geburtstags zusammen mit der Frau aus zwanzig gemeinsamen Jahren an seiner Seite, nach London kommt, wo er früher intensiv lebte, und dort einen Tisch für sechs bestellt, wo Maud doch nur von der Einladung an ihre beiden Kinder aus der früheren Ehe weiß, die Leonhard mit groß zog und die aus Westeuropa nun anreisen.
Ihr Erstaunen soll auch unser Erstaunen werden und sehr lang geht das gut. Denn gemächlich entwickelt sich erst einmal das Ankommen von Leonhard, der die Geräusche wiedererkennt, die Gerüche, die Stadtviertel und vor allem sofort von seinen Erinnerungen überfallen wird. Aber sind es seine? Was am Anfang – und vor allem, wenn man den 16 Stunden des Hörbuchs mit der angenehmen und nie lästigen Stimme von Dieter Bär als Vorleser konzentriert lauscht, was wir taten, so merkt man sehr lange nicht, daß da etwas nicht stimmt, irgendetwas verrutscht, auf keinen Fall niet- und nagelfest ist.
Denn, was einem erst mal als ein Kammerspiel zu sechs Personen erscheint, so in der Manier der Agatha Christie, wo von Sechsen dann einer der Mörder wäre, nur wer?, entpuppt sich nach dem ersten Drittel, das wir mit Spannung und großem Interessen hörten – und später lasen, weil wir den HIMMEL ÜBER LONDON zunehmend als Nebel wahrnahmen und zwar als Nebel in unserem Kopf – als ein so unglaubliches Durcheinander von Orten – neben London hier und heute und in den swingenden Sixties, die USA heute, Schweden in den Sechzigern und heute, Belgien, Deutschland mit Berlin? Und auch die kommunistische Tschechoslowakei wie auch die heutige Tschechei kommen auch noch unter – und das sogar zentral!
Das lokale und zeitliche Durcheinander ist gekoppelt mit so unglaublich vielen Personen, die man zudem gedoppelt erlebt, daß man nach dem roten Faden sucht, den man so gerne finden möchte – und den man bei Hakan Nesser bisher immer fand! Hier spricht, hier schreibt, eine enttäusche Leserin, die alle Romane dieses Autors gerne las und sich auf diesen neuen Roman nachgerade freute, weil sie Nesser als einen dieser skandinavischen Autoren schätze lernte, der Sachen und Personen auf den Grund geht und damit gesellschaftliche Wirklichkeit nebenbei analysiert, die als Ausgangspunkt von Verbrechen genauso taugen wie sie mit anderen Vorzeichen zu einem gedeihlichen Zusammenleben führen. Also ein höchst diffiziler und differenzierender Schreiber.
Hier aber verwirrt er über alle Maßen und auf jeden Fall mehr als die Polizei erlaubt. Wir haben erst auf den Hinweis von Sylvia Staude in der Frankfurter Rundschau bei ihrer Besprechung „Der Verfasser des Verfassers....Hakan Nessers verwirrender und leider ermüdender Roman HIMMEL ÜBER LONDON“ überhaupt mitbekommen, daß wir den Schutzumschlag, der ein gleißendes Gewitter über Häusern zeigt, vor dem Lesen besser entfernten! Wer tut denn so etwas von alleine? Aber, guter Tip! Denn dann liest man auf dem schönen schwarzen Deckel oben von einem Verfasser namens STEVEN G. RUSSELL den Titel BEKENNTNISSE EINES SCHLAFWANDLERS.
Na, da werden wir Deutsche erst einmal hellhörig. „Bekenntnisse“, das kommt ja hochromantisch daher oder riecht zumindest nach Thomas Mann, was ja paßt, da Hermann Broch seinen SCHLAFWANDLER 1930 herausbrachte. Nun gut, das muß ein Schwede alles nicht kennen und daß auch der Zeithistoriker Christopher Clark seinen dicken und hochkomplexen Roman über den Ersten Weltkrieg DIE SCHLAFWANDLER nannte, konnte Nesser noch nicht wissen. Aber was will er damit, mit all den potentiellen Verfassern, wo doch auf ansonsten auf dem Vorblatt und dem Buchrücken ordentlich vom Autor Hakan Nesser und seinem HIMMEL die Rede ist. Wie gut, daß wir das die 16 Stunden Hören hindurch noch gar nicht wußten. Wir hätten noch weniger gewußt, wie was mit was zusammenhängt, wer hier gerade redet, schreibt oder lebt. Fortsetzung folgt.
INFO:
Hakan Nesser, HIMMEL ÜBER LONDON, btb Verlag
auch als E-Book erhältlich
als Hörbuch im Hörverlag München
gelesen von Dietmar Bär, Walter Kreye u. Simone Kabst