„Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert“ aus dem Piper-Verlag
Hanswerner Kruse
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Geht das? Kann man einen aufregenden und unterhaltsamen Roman schreiben, dessen Story zugleich vielschichtig und hochliterarisch erzählt wird? Wir meinen „ja!“ und sind begeistert von dem vor kurzem erschienenen Buch des Schriftstellers Joël Dicker. Auf über 700 Seiten breitet der Schweizer „Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert“ aus.
Der junge, mit seinem ersten Werk überaus erfolgreiche Marcus Goldman, ringt mit einer Schreibhemmung, um endlich den vom Verlag geforderten neuen Roman zu beginnen. Um sich helfen zu lassen, besucht er seinen älteren Freund und Mentor Harry Quebert in der Kleinstadt Aurora an der Ostküste der USA. Im Garten des berühmten Literaten und Hochschullehrers wird bei Gartenarbeiten die Leiche der vor 33 Jahren verschwundenen Nola gefunden. Quebert wird des Mordes bezichtigt und festgenommen, bei den Ermittlungen kommt heraus, dass er damals mit dem 15jährigen Mädchen ein Verhältnis hatte.
Gegen Quebert beginnt eine Hexenjagd, der jahrzehntelang gefeierte Star des Literaturbetriebs wird als Kinderschänder und Perverser gebrandmarkt. Weil er seine Liebe zu der Minderjährigen in seinem ersten Erfolgsroman verarbeitet hat, werden seine Bücher aus den Bibliotheken entfernt und verbrannt.
Goldman glaubt nicht an die Schuld seines Freundes und will ihn durch eigene Recherchen entlasten. Dabei stößt er ständig auf neue Wahrheiten und überraschende Wendungen, aber immer wieder ist nichts so, wie es gewesen zu sein scheint. Doch der Roman ist kein Krimi, es geht nicht darum, den Täter zu finden. Selbst ein leitender Polizist, der widerwillig mit dem Schriftsteller zusammen arbeitet, ermuntert ihn, sich mehr für Nola, das Opfer, zu interessieren.
Das Buch ist ein Gesellschaftsroman, der kritisch die Strukturen einer amerikanischen Kleinstadt untersucht. Viele Beziehungen sind interessant, wie hat sich Queberts und Nolas Liebe entwickelt, wie haben sie ihre Affäre gelebt und verborgen? Welche Rolle spielen die anderen Mädchen, deren Mütter sie mit dem scheinbar erfolgreichen Autor Quebert verkuppeln wollten? Wie sieht es in deren Familien aus? Jede neue Antwort wirft weitere Fragen auf…
Die Geschichte wird mit vielen Rückblenden und Zeitsprüngen oft humorvoll, gelegentlich sogar sarkastisch erzählt. Als Goldman den Ermittler kennen lernt, schimpft der: „Ich hasse Sie, Schriftsteller, lassen Sie sich das gesagt sein. Meine Frau hat Ihr Buch gelesen. Sie findet Sie intelligent und gut aussehend. Ihre Fresse, die hinten auf dem Buch abgebildet ist, hat wochenlang auf ihrem Nachttisch gethront. Sie haben in unserem Schlafzimmer gewohnt. Sie haben bei uns geschlafen.“
Trotz aller Spannung ist der „Fall Harry Quebert“ auch ein Buch über das Schreiben. Jedes Kapitel beginnt mit einem von insgesamt 31 Ratschlägen des „großen Quebert“ an seinen Studenten Goldman. Gleich der primäre Rat lautet, das erste Kapitel sei entscheidend: „Gefällt es den Leuten nicht, werden sie Ihr Buch nicht weiterlesen.“ Der Rezensent hat die ersten 170 Seiten des Romans mit einem Happs verschlungen und brauchte dann eine Pause, um alle die verblüffenden Wendungen - die hier natürlich nicht verraten werden - sacken zu lassen.
Joël Dicker „Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert“, Piper-Verlag, gebunden, 736 Seiten,
22,99 Euro