Flucht und Rettung unbegleiteter jüdischer Kinder aus Frankfurt am Main in die USA zwischen 1934 und 1945
Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Dies für unsere Frankfurter Memoria so wichtige Erhebung und Publizierung ist von Renate Hebauf und ist im Frankfurter Verlag brandes+apsel erschienen. Auch hier kann man nur fassungslos fragen, warum erst jetzt, 77 Jahre nach dem Ende des furchtbaren zweiten Weltkriegs, und gleichzeitig dankbar registrieren, wenigstens jetzt, denn durch diese immense Recherche und ihre öffentliche Kenntnisnahme wird ein weiteres düsteres, dunkles Kapitel Frankfurter NS-Geschichte ans Licht geholt – und diesmal ja mit positivem Ausgang.
Ich fange gerne mit dem an, was diesen geretteten Kindern erspart blieb: das Zusammentreiben an der Großmarkthalle, wovon die Züge nach Auschwitz und anderen Konzentrationslagern, den industriellen Tötungs- und Vernichtungslagern in den Tod fuhren. Aber, das wäre meine nächste Frage bei der Freude über gerettete jüdische Kinder: Was ist mit deren Eltern passiert, auch mit den Geschwistern? Das frage ich, weil das eigene Überleben eben auch als Bürde empfunden werden kann, wenn die übrige Familie ermordet wurde, liegt die Frage nahe: Warum bin ich verschont werden? Es ist also bei aller Freude über Gerettete damit noch nicht alles gesagt. Aber das sind unsere Gedanken, die allein der Titel auslöst. Schauen wir also, was im Buch alles steht.
Schon beim Durchblättern erkennt man, daß es im Buch – es geht auch gar nicht anders – häufig um die Darstellung individueller Schicksale geht, die exemplarisch für die Rettungsaktionen ab 1934 stehen. Diese Kurzbiographien folgen im zweiten Teil, im ersten wird sinnvollerweise historisch in elf Kapiteln die Ausgangslage 1933 und die folgenden Stationen der Einkesselung, Isolierung, Abschnürung und spätere Deportationen dargestellt. Schon die Karte vom heutigen Hessen mit den damaligen Herkunftsorten der Kinder, die gerettet wurden, zeigt, daß nicht alle Kinder aus Frankfurt selbst stammen, sondern, wie der Titel - genau gelesen - sagt, sich aus der Stadt Frankfurt auf den Weg in die USA machen konnten. Sehr viele aus dem Main-Kinzig-Kreis.
Auch die weiteren Karten sind auf einen Blick erhellend, wenn man sich die vier Bildlegenden, die einsichtig sind, zu eigen macht. Dann werden nämlich für die hessischen jüdischen Kinder die Fluchtwege durch Betten und die Rettung per Schiff mit einem Boot gekennzeichnet. Von Hamburg und Bremen ging es direkt mit den Schiffen los, über Belgien ging es nach Le Havre zur Ausschiffung, im Süden über Triest, Genua und Marseille und ganz im Westen dann Lissabon. Die nächste Karte zeigt die Karte der USA, in der kleine Häuschen verteilt sind, die Plätze, wo hessische jüdische Kinder aufgenommen wurden, lebten. Sofort sieht man, daß die meisten dort geblieben sind, wo die Schiffe ankamen: New York, Philadelphia und Baltimore.
Auch in Chicago und St. Louis stehen Häuschen und im Westen der USA sind es nur die Städte San Francisco und Los Angeles, wohin sich die Geflohenen retten konnten.
Das erste Kapitel schildert dann, was sich für die jüdische Bevölkerung nach der Machtübernahme der Nazis änderte: Stück für Stück: Anpöbeleien, Ausgrenzungen und Drangsalierungen. „Auch in Frankfurt beschimpften, verprügelten und quälten aufgehetzte Kinder schon 1933 jüdische Schüler und Schülerinnen auf ihrem Weg zur Schule oder beim Spielen auf der Straße.“ Reaktion der Eltern war häufig die Abmeldung ihrer Kinder aus der öffentlichen Schule und Anmeldung im Philanthropin, der Schule des liberalen Reformjudentums, das es heute übrigens wieder gibt. Schon im April 1933 wurde eine Art Numerus Clausus für Schulen und Hochschulen festgelegt, demnach jüdische Schüler nur 1,5 Prozent ausmachen durften. Das war war angesichts der Tatsache, daß jüdische Schüler zuvor überproportional in weiterführende Schulen und auf die Universität gingen, weil Bildung einen hohen Wert im Judentum darstellt, eine Katastrophe. Auch das ein Motiv, das eigene Kind dahin zu schicken, wo seiner Bildung keine Grenzen setzt. Schon damals diskutierte man unter amerikanischen Juden Rettungsaktionen, nicht nur für Kinder; aber 1933 wütete noch die amerikanische Wirtschaftsflaute und Antisemitismus war allgegenwärtig.
So führt uns die Autorin einerseits die weiteren Verfolgungen in Deutschland vor, die Fluchtwege, wo Frankreich und Belgien positiv hervorstechen und die Veränderung der Bereitschaft in den USA, Kinder aufzunehmen. Die meisten sind dort geblieben, wobei die Männer meist honorable Berufe ausübten, während Frauen weniger Aufstiegschancen hatten. Das muß man alles im einzelnen lesen, weil sich die Schicksale schlecht zusammenfassen lassen, was auch für diejenigen gilt, die nach Deutschland zurückkehrten.
P.S. Beim Aufschlagen des Buches stockt einem gleich der Atem. Dort steht ZUM GEDENKEN AN DIE EINEINHALB MILLIONEN IM HOLOCAUST ERMORDETEN KINDER. Unfaßbar.
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Info:
Renate Hebauf, „Du wirst nach Amerika gehen“ ,Flucht und Rettung unbegleiteter jüdischer Kinder aus Frankfurt am Main in die USA zwischen 1934 und 1945, Brandes & Apsel 2022
ISBN 978 3 95558318 7