"Leseland Hessen" in Fulda (2)
Annika Büsing „Nordstadt“
Hanswerner Kruse
Fulda (Weltexpresso) - Eine weitere Reise im „Leseland“ führt ins Ruhrgebiet, genauer in die "Nordstadt" (Buchtitel) einer Großstadt. Nord sei nicht nur eine Himmelsrichtung, sondern stünde hier in vielen Städten für ausgegrenzte Menschen in sozialen Brennpunkten, erklärt Organisatorin Jutta Sporer in ihrer trefflichen Vorrede.
EIn solch einer „Nordstadt“, in der die Bewohner nicht gerade zimperlich miteinander umgehen, spielt das Erstlingswerk der Autorin Annika Büsing. Die legt in ihrem Vortrag gleich los: Kitschige Sätze wie „Ich liebe dich!“, könne man heute nun wirklich nicht mehr in einem Roman schreiben, geschweige denn eine Lesung damit beginnen. Dennoch wagt sie, „in Fulda zum ersten Mal“, diesen Anfang ihrer Erzählung vorzutragen. Während sie weiter vorliest, fabuliert sie zwischendurch häufig über die Menschen und deren Leben im Ruhrgebiet. Da der Roman von den Außenseitern Nene und Boris in Ichform berichtet, changieren Vorlesen und Büsings Abschweifungen. Genauso oft wie sie im Buch schreibt, redet sie assoziativ und schweift bezaubernd ab.
Mit leiser Ironie skizziert die Autorin beide Figuren, die sich im Schwimmbad kennenlernen, in dem Nene als Bademeisterin arbeitet. Gleich nach den Liebesworten erfährt man: „Wir haben das Frühjahr zusammen verbracht und den Sommer. Im Herbst habe ich ihn verloren. Oder er mich.“ Beide sind Verwundete als sie sich begegnen - Nenes Mutter starb früh, ihre Tochter wuchs mit dem gewalttätigen Vater auf, wurde später Opfer einer Vergewaltigung. Boris hatte Kinderlähmung mit körperlichen Folgen, seine besorgte Mutter ließ ihn bewusst nicht impfen. Doch seine seelische Behinderung ist stärker als die körperliche, die ihm immer noch Schmerzen bereitet.
In der Lesung pickt Büsing Momente aus ihrem Roman heraus, etwa das Kennenlernen des Paares: „Sein Gang war wie der einen alten behinderten Mannes. Aber seine Augen waren wie von einem Puma. Mann hat der Augen! Er hat Augen, die machen dich wild. Wirklich.“ Trotz der bitteren Umstände ist „Nordstadt“ keine sentimentale Schmonzette, sondern der kraftvolle Versuch zweier Liebenden zueinander zu finden. Durch ihre manchmal freche, manchmal behutsame Sprache gelingt es der Autorin, uns die Personen einfühlsam nahezubringen. Mit kühnen Gratwanderungen schafft sie spöttische Distanz und zugleich Empathie.
Nenes erstes Date mit Boris war ein abenteuerlicher Kinobesuch: „Er wollte mit mir ins Kino gehen. Und ich habe zugesagt. Ich habe mich geschminkt und mir die Beine rasiert. Ich habe sogar eine hübsche Unterhose an, obwohl mir klar gewesen ist, dass das Kinodate nicht mit Sex enden wird. Ich weiß nicht, warum mir das klar war, aber es war mir klar, und trotzdem kann es ja nicht schaden, vorbereitet zu sein, oder? Und ich fühle mich eben sexier in einer schönen Unterhose.“
Ob die Liebe zwischen den beiden gelingt, erfahren wir am Leseabend nicht, die Antwort wird uns das Buch geben.
Foto:
Hanswerner Kruse
Info:
Annika Büsing „Nordstadt“, Leinenband mit Lesebändchen, 124 Seiten, Steidl-Verlag, 20 Euro