Bildschirmfoto 2022 10 01 um 04.22.40 Serie: DIE KRIMIBESTENLISTE im September 2022, Teil 6

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Meist werden innerhalb der Krimis dann auch noch Unterabteilungen gebildet, in denen deutlich wird, ob größere gesellschaftliche Probleme mit der Geschichte am Pranger stehen, oder ob die menschliche Psyche ausschlaggebend für Gewalt, für Verrat, ja für Mord steht. Und für Letzteres ist die Familie die ideale Einheit, solche Familien wie die feinen Fitzsimons im eleganten und großräumigen Haus Avalon in Dublin.

Das Wunderbare an solchen Familientragödien ist einmal die Überschaubarkeit der Figuren und die Übertragbarkeit aufgrund eigener Erfahrungen. Nein, jetzt geht es nicht darum, ob die eigene Familie auch eine Mörderbande sei, sondern daß, wenn das Schwergewicht der Erzählung auf einzelnen Familienmitgliedern liegt, ich immer jemanden finde, der dem X aus der Familie A oder dem Z aus der Familie B gleich. Ja, Ys gibt es auch.

Bei den feinen Fitzsimons ist was los, man weiß gar nicht, wo man anfangen soll, denn es passiert Unglaubliches auf ganz normale Weise und die Geschichte ist derart spannend aufgebaut, daß man gar nicht viel erzählen darf, denn das ist ein Krimi der von der Spannung und der Auflösung des Plots lebt.

„Mein Mann hatte eigentlich nicht vor, Annie Doyle umzubringen, aber diese verlogene Schlampe hat es nicht anders verdient.“, sagt Lydia mit dem ersten Satz des Romans, der erst einmal 1980 spielt. „Das letzte Mal habe ich Annie am Donnerstag, dem 13. November 1980 in ihrem möblierten Zimmer in der Hanbury Street gesehen.“, fährt im 2. Kapitel Karen fort. Jetzt wissen wir schon, daß Lydia vom Mord an Annie weiß, die deren Schwester Karen noch sucht.

„Ich hörte klar und deutlich, wie er es sagte. „Das Wochenende vom vierzehntenNovember? Hm, warten Sie....da muß ich überlegen...ah ja, ich erinnere mich, da war ich hier mit meiner Frau. Warum fragen sie?“, hört Laurenz seinen Vater Andrew Fitzsimons der Polizei antworten.

Alles klar? Ein verschwundenes Mädchen, eine Ehefrau, die vom Mord des Mannes an Annie Doyle spricht, eine Schwester, die nach ihr sucht und ein Sohn, der schnell herausbekommt, daß sein Vater lügt. Aber hier geht es gar nicht um die Aufklärung des Mordes, denn das steht ja schon im ersten Satz. Hier geht es um Lügen und Betrügen und um die Wechselfälle des Lebens, die sich immer nach Murphys Gesetz mit der schlimmsten Möglichkeit ereignen, auf neudeutsch auch Worst Case genannt.

Die Geschichte lebt von ihrer feingestrickten Struktur, daß einerseits diese drei Personen: Mutter Lydia, Schwester Karen und Sohn Laurence als Icherzähler ihre Version zum Fortschreiten der Handlung erzählen, mehrperspektivisch werden wir also so gut informiert, daß wir den Personen immer wieder ‚Halt‘ zurufen möchten, denn wir wissen ja schon von der anderen wie es ausgehen wird, wenn.... Können wir dem jeweiligen Erzähler trauen?, war mein Vorbehalt, denn man ist ja nach einigen Erzählern, die einen mit Absicht täuschen, gewappnet. Aber nein, weder Lydia, noch Laurence, noch Karen wußten ja, daß Liz Nugent ihre Geheimnisse an die große Glocke hängt. Man darf ihnen vertrauen, was nur für das Erzählte gilt. Denn insbesondere Mutter Lydia ist im Grunde diejenige, die den ganzen Schlamassel – richtig: ein Mord ist mehr als das – anrichtet. Eine Frau von der man viel lernen kann, wenn man als Soziopathin durch die Welt marschiert, was diese gerade nicht tut, denn sie bleibt entschlossen in ihrem tollen Haus und tut alles, aber auch alles dafür, daß sie bleiben kann und tut auch alles, als ihr Sohn endlich einmal auszieht, daß er wieder zurückkommt und bei ihr bleiben muß. Absolut muß.

Das ist das eine, das andere sind die Jahreszahlen 1980, 1985 und 2016, in denen wir mitbekommen, wie moralische Schuld nicht verjährt, während echte Schuld gar nicht zur Kenntnis genommen wird. Vor allem aber erfahren wir, was passiert, wenn man nicht von Anfang an die Wahrheit sagt. Es gibt Krimis, die bauen einen auf. Mit dem Zuschlagen des Buches lebt in einem eine Energie weiter. Hier findet das Gegenteil statt: wie gesagt: Murphys Gesetz und nieder mit solchen Müttern und Ehefrauen wie Lydia, die immer, aber auch immer bekommen, was sei wollen. Auch wenn sie eigentlich nichts mehr davon haben.