Bodo Kirchhoff, Die Liebe in groben Zügen, Frankfurter Verlagsanstalt

 

Helmut Marrat

 

Hamburg (Weltexpresso) - "Sehnsucht nach Liebe ist die einzige schwere Krankheit, mit der man alt werden kann, sogar gemeinsam. (...) Zwei Paare getrennt durch ganze Epochen, zweimal das alte Lied: Franz und Klara, das Jahr 1226, er halb blind und singend den Spatzen nah, sie sein betender Schatten, Verrückte aus heutiger Sicht, der des anderen Paars: Vila und Renz, erwachsene Tochter, Wohnung in Frankfurt, Haus in Italien, beide im Takt unserer Zeit.

 

 

Und als Bogen zwischen den Epochen ein Mann auf den Spuren des Franz von Assisi, Vilas unverhoffte Liebe (...)"Das lesen wir auf der Eingangsseite des Romans. Angeblich gibt es Rezensenten, die einen Roman nicht besprechen, wenn er mehr als soundsoviel Seiten umfaßt. Das Buch "Die Liebe in groben Zügen" von Bodo Kirchhoff ist beinah 670 Seiten stark. Doch man kann sagen, mit vielleicht einer Ausnahme, dass die Geschichte ihre Zeit beanspruchen darf und dass man ihr bis zuletzt bereitwillig folgt. Was wird erzählt?

 

Ein Paar, bei dem beide für das Fernsehen tätig sind, Renz und Vila, er als Autor von mehr oder weniger gehaltvollen Serien oder Fernsehfilmen, sie als Moderatorin sogenannter 'Mitternachtstipps'; lebt sein Leben miteinander, doch auch lange Zeit aneinander vorbei, fast bis zum Ende, als man älter geworden ist, aber auch ernüchtert. Irgendwann wird ihre Sendung eingestellt, doch, da sie unkündbar ist, ein neues Format geplant, während er ein neues Projekt über das Thema Mißbrauch vorbereitet. Später erfahren wir, dass beide Ihren Beruf gar nicht schätzen, ja, sogar eigentlich verachten. Dennoch, man lebt gut von seiner Arbeit, hat eine eher teure Wohnung in Frankfurt, ein Sommerhaus am Gardasee, Urlaube in den Tropen und so fort. Dorthin flüchtet man regelmäßig über Weihnachten etwa; und vor der Idee, ein zweites Kind zu haben, flüchtete man gewissermaßen auch. Der "Preis" dafür, ein Ende der familiären Weiterentwicklung, wird dann "fällig", als sich die Tochter ebenso verhält, nämlich mit einer Abtreibung den Wunsch der beiden, Großeltern zu werden, durchkreuzt.

 

Das hat auch zu tun mit Liebe, die sich einesteils erfüllt, auf der anderen Seite aber wieder nicht.

 

Grundlage von Kirchhoffs Erzählung ist die Geschichte des Franz von Assisi, den die später heiliggesprochene Klara begleitet und pflegt, und der Autor, wohl wissend, dass dieser Stoff nicht sehr umfassend zu erzählen wäre, füllt ihn gewissermaßen auf mit der Vierecksgeschichte über das erwähnte Paar und einen Mann, Bühl geheißen, der als Wintermieter des Hauses in Italien erscheint, um über Franz von Assisi zu forschen, doch dann sehr schnell der heimliche Geliebte der Frau wird, dem sie gewissermaßen verfällt, während ihr Ehemann Renz eine offene Liebschaft mit der Produzentin seiner Filme unterhält. Sogar, als sich herausstellt, dass jene Frau, die Produzentin, todkrank ist, wird ihr Verhältnis zu Renz offen verhandelt, während Vila ihr Verhältnis zu jenem Bühl, dem Wintermieter, bis zuletzt verheimlicht.

 

Kirchhoff flicht die alte Legende immer wieder ein, damit den Text rythmisierend.

 

Auch Goethes Italienreise spielt ihre Rolle, da dessen Geburtstag, der 28.8., auch der Geburtstag von Vila ist, und also Gelegenheit bietet, alljährlich zum Ende des Sommers ein Gartenfest zu geben.

Vielleicht wäre es sinnvoll für den Leser, Goethes Reisebericht vorzunehmen und nach Anspielungen zu suchen, deren sich der Autor bedient, denn Kirchhoff bereichert seinen Text immer wieder durch Anspielungen.

 

Wir haben erwähnt, dass wir dem Erzähler fast ausnahmslos gerne folgten. Denn Kirchhoff ist ein sehr guter Erzähler, und ihm gelingt über weite Strecken, eine atmosphärisch dichte Geschichte, zu der man Tag für Tag immer wieder gerne greift. Einzige Ausnahme: Ein längerer Abschnitt, der auf Kuba spielt. Wieso dies etwas schwergängig wirkt, ist schwer zu sagen, denn auch hier erzählt Kirchhoff durchaus erfindungsreich, führt sogar staunenswerte Figuren ein, doch es gelang uns nicht, sie interessant genug zu finden. Vielleicht - doch das klingt banal -, fehlt hier der Hauptakteur, also der erwähnte Renz, das Alter Ego des Autors. Und, wenn man übertriebe, tut es Kirchhoff nicht gut, wenn er sich selbst unerzählt ignoriert.

 

Vielleicht kann man dies Buch lesen als ein Portrait unser bundesrepublikanischen Gesellschaft, das Spiegelbild des Mittelstandes, der vergleichsweise gut ausgestattet leben kann, doch dessen Leben keine Richtung kennt, es sei denn, es tritt ein 'Heiliger' auf, hier jener Bühl, der als Forscher selbst so wirkt, als sei er ein verspäteter Jünger Franz von Assisis, der sich an dessen Leben geheftet hat; und nur dessen Scheitern, dessen Verschwinden befreit die anderen, läßt sie aber auch zurück in ihrer sinnleeren Lebensweise. Gealtert, aber nicht gereift. Denn das etwaige Auftauchen eines weiteren 'Heiligen' brächte ihr Leben erneut durcheinander, aber eben nicht nachhaltig.

 

INFO:

 

Das Buch stand auf der Zwanzigerliste des Deutschen Buchrpreises 2012, kam aber nicht in die Endausscheidung.

 

Bodo Kirchhoff, Die Liebe in groben Zügen, Frankfurter Verlagsanstalt (FVA), 2012