Felicitas Schubert
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Die meisten freuten sich einfach. Zum einen, daß mit der Buchmesse auch die persönlichen Preisvergaben wieder möglich sind. Zum anderen, daß so viele gekommen waren, so daß der große Saal im Congress Center voll wurde. Nein, wir kannten nicht alle, aber die meisten kannten ganz schön viele und das waren wirklich Wiedersehensfeiern, denn die Branche ist eben eine, die über die Jahrzehnte zusammengewachsen ist. Das brachten die Begrüßungen zum Ausdruck, die vom Börsenverein und von der Buchmesse sowie von der aus Berlin gekommenen Bundesjugendministerin vorgenommen wurden.
"Wäre unsere Welt eine Mietwohnung, würden wir niemals eine Nachmieter:in finden", war ein starker Reflex auf die gegenwärtige Lebenssituation, die von einer Krise nach der anderen gepägt ist. Wobei sich die Krisen nicht abwechseln, sondern eine auf die andere sich draufsetzt. Ralf Schweikart, Vorsitzender des Arbeitskreise für Jugendliteratur, hatte mit diesem Satz die aktuelle Situation charakterisiert und daraus gefolgtert, daß Kinder nicht nur weiterhin Bücher brauchen, sondern jetzt erst recht! Das friedliche Zusammenleben der Völker, Dialog, Austausch und Toleranz sei die einzige Antwort auf die gegenwärtige Situation, was heftig beklatscht wurde. Er bedankte sich bei den Verlagen, die sich für Bücher für ukrainische Kinder eingesetzt hatten - und bei Roswitha Budeus-Budde von der "Süddeutschen Zeitung", die sich jahrzehntelang für die Vermittlung von Jugendliteratur eingesetzt hatte und nun den Staffelstab in der Redaktion weitergibt. Er hatte einen persönlichen Ton angeschlagen, den die folgenden Redner einhielten.
Börsenvereinsvorsteherin Karin Schmidt-Friderichs schlug vor, daß Jugendliche aufpassen sollten, daß sie keine Leselampen aus Metall haben. Denn daran erkannten ihre Eltern, vor allem die Mutter, immer, daß sie das Licht erst ausgemacht hatte, als die Mutter vor der Türe stand. "Wer braucht schon Schlaf, wenn es Bücher gibt ..." Buchmessenchef Juergen Boos konnten mit mütterlichen Reaktionen noch eins draufsetzen. So tat er kund, dass seine Mutter immer die Birne herausgedreht hatte, damit er nicht heimleich weiterlas: "So musste ich viel Geld in Batterien für die Taschenlampen investieren ..." Ihm ist auch wichtig, daß Kinder von Anfang an die Bücher der ganzen Welt auf Deutsch hören können.
"Die Bücher fächern die Welt in ihrer ganzen Vielfalt auf", sagte Bundesjugendministerin Lisa Paus als Stifterin des Preises. " Sprache ist der Schlüssel zur Verständigung oder, um mit Victor Hugo zu sprechen: 'Die Zukunft gehört dem Buch und nicht den Bomben und dem Krieg':" Die Ministerin sicherte dem Preis weiter ihre Unterstützung zu - "er ist der wichtigste Preis in der Kinder- und Jugendliteratur und leistet entscheidende Lobbyarbeit".
Sparte Bilderbuch: Unsere Grube"
Es war hübsch gemacht, wie die einzelnen fünf Bücher auf der großen Leinwand aufgeblättert und vorgestellt wurden. Gewinnerin ist Emma Adbages "Unsere Grube". Die illustratorin ist in Corona-Quarantäne, für sie nahm Barbara Gelberg von Beltz & Gelberg die Momo entgegen. Das Buch setzt sich hartnäckig dem Niedlichkeitstrend entgegen, urteilte die Juryvorsitzende Karin Fach. Moderatorin Vivian Perkovic begeisterte sich für die "Trotznasen" und fragte Gelberg nach den Figuren. "Kinder spielen ohne Geländer, weil sie Experten im Spielen sind", befand Gelberg. Gar nicht so einfach, sich heute Freiräume fürs Spielen zu erobern, weswegen imer mehr Eltern verkehrsberuhigte Zonen fordern, erläuterte Paus.
Sparte Kinderbuch: "Die Suche nach Paulie Fink"
Im Kinderbuch konnte sich Ali Benjamins "Die Suche nach Paulie Fink" (Hanser), eine Geschichte über Ausgrenzung für Leserinnen ab 11 Jahren durchsetzen. "Es waren so viele unterschiedliche Textformen, die man nachbauen musste, Chats, die Shakespeare-Challenge mit Sätzen wie im 16. Jahrhundert", sagten die Übersetzerinnen Jessica Komina und Sandra Knuffinke.
Sparte Jugendbuch: "Dunkelnacht"
"Ich hab vor genau 15 Jahren hier schon mal auf der Bühne gestanden und den Preis für mein Gesamtwerk erhalten ... Könnte man eigentlich aufhören. Aber ich hab mich nicht dran gehalten", meinte Kirsten Boie, die mit "Dunkelnacht" (Oetinger) über Verbrechen in den allerletzten Tagen des Zweiten Weltkriegs im bayerischen Penzberg schrieb. "Es ist mein erstes Buch, für das ich einen Deutschen Jugendliteraturpreis bekommen habe - jetzt fühlt es sich richtig an." Boie beschrieb eindringlich die Arbeit in den Archiven mit den Dokumenten und ihre Erkenntnissse.. "Ein sprachliches Meisterwerk in der Verdichtung und Verknappung - Kirsten Boie hat sich neu erfunden", urteilte die Juryvorsitzende Karin Fach.
Sparte Sachbuch: "Der Duft der Kiefern"
In der Sparte Sachbuch fiel die Entscheidung für Bianca Schaalburgs Graphic Novel "Der Duft der Kiefern" (Avant). Schaalburgs Sohn recherchierte mit, ihr 86-jähriger. Onkel diente als Zeitzeuge. "Ich war im Persönlichen sehr gefangen", war ihre Erfahrung von Schaalburg, die wie Boie auch in Archiven recherchierte, "wo alles bis zum vierten Durchschlag aufgehoben war". Das Buch geht der Frage nach, wie sich die Familie im Zweiten Weltkrieg verhalten hat und setzt Oma Elses Satz "Wir wussten ja nichts" über die Vertreibung und Enteignung von Juden die Auseinandersetzung mit den historischen Ereignissen entgegen. "Wo Zeitzeugen nicht mehr da sind, muss die nachfolgende Generation die Recherche übernehmen. Die Graphic Novel sei ein innovatives Sachbuch, "das zeigt, wie man visuell Wissen vermitteln kann", so Karin Fach.
Die Jugendjury: "Hard Land"
Die Jugendjury, die sich aus sechs Jugendleseclubs von Königstein bis München zusamensetzt, stellte die sechs von ihnen nominierten Titel in kurzen Theaterszenen vor, bevor sie ihren Siegertitel bekanntgab. Sie votierte für Benedict Wells "Hard Land" (Diogenes). Der sichtlich bewegte Schriftsteller antwortete auf Vivian Perkovics Frage, ob es denn überhaupt als Jugendbuch angelegt gewesen sei, er ziehe da keine Grenzen zwischen Erwachsenen- und Jugendliteratur. "Das Schöne ist, als Erwachsener zurückkehren und die Worte zu haben, die man als Jugendlicher nicht hat." Und warum die 1980er Jahre und nicht die 90er? "Die 80er gehörten mir - weil ich sie ja nicht betreten habe." Das hatte er übrigens schon auf der Jubiläumsfeier des Diogenes Verlages geäußert. Und der Diogenes Verlag mit seiner so gut funktionierenden Pressestelle, hatte auch sofort eine Eilmeldung zur Auswahl seines Erfolgautors versandt.
"Hard Land"
Hard Land, der aktuelle Roman von Bestsellerautor Benedict Wells, wurde mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis 2022 in der Kategorie Preis der Jugendjury ausgezeichnet.
Bundesjugendministerin Lisa Paus hat den Preis am Abend des 21.10.2022 auf der Frankfurter Buchmesse verliehen. Die Veranstaltung wurde live gestreamt. (Moderation: Vivian Perkovic)
Podiumsrunde mit den Gewinner:innen des Deutschen Jugendliteraturpreises
22. Oktober 2022, 11.00 bis 12.00 Uhr, Gallus Theater, Kleyerstraße 15, 60326 Frankfurt am Main
Jurybegründung:
»Missouri, 1985. Als der 15-jährige Sam in einem alten Kino zu jobben beginnt, bricht für ihn ein Sommer an, der alles verändern wird. Zwischen Popcorn und flimmernden Leinwänden trifft er auf neue Freunde, die ihn aus der Starre des verschlafenen Örtchens Grady befreien und schnurstracks ins Erwachsenwerden katapultieren. Es ist ein Sommer, der ihm die erste Liebe und den ersten Verlust bringt, ein Sommer voller Abenteuer und Schmerz, voller Ängste und neuer Träume. Ein Sommer, der mitsamt seinen Schattenseiten eine Liebeserklärung an die Jugend ist. Sams Freundin Kirstie erfindet den Begriff „Euphancholie“ als Beschreibung eines Zustands, in dem die Euphorie eines glücklichen Augenblicks von seiner lauernden Vergänglichkeit überschattet wird und melancholisch stimmt – ein Wort, das diesen Coming-of-Age-Roman nicht besser beschreiben könnte: Gleichermaßen verspielt wie melancholisch wirft Hard Land uns in eine Zeit der „99 Luftballons“ und verträumten Sommertage zurück und schafft dabei mit seinen lebendigen und witzreichen Charakteren eine Atmosphäre, die bis zur letzten Seite an Grady und dessen 49 Geheimnisse fesselt.«
Die Mitglieder des SAS Lesezeichenclubs der Sankt-Angela-Schule in Königstein präsentieren im Video ihre Nominierung für den Preis der Jugendjury.
Der Deutsche Jugendliteraturpreis wird vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gestiftet und vom Arbeitskreis für Jugendliteratur ausgerichtet. Der Preis der Jugendjury ist mit 10.000 Euro dotiert.
Sonderpreis Illustration Neue Talente: Mia Oberländer
Ihr Comic "Anna" (Edition Moderne) zeichne sich durch eine unverwechselbare Zeichensprache aus, so die Vorsitzende der Sonderpreisjury, Prof. Kirsten Winderlich. Besonders brührt habe die Juror:innen, wie es Oberländer gelungen sei, schwer greifbare Diskriminierungsprozesse herauszuarbeiten, ohne die individuelle Erfahrung zu schmälern.
Sonderpreis Lebenswerk Illustration: Hans Ticha
"Tichas Illustrationen strotzen vor Vitalität, sowohl bei Menschen wie bei Flora und und Fauna", so die Vorsitzende der Sonderpreisjury. Bild- und Textebenen interagieren, die Figuren werden in Beziehungen gesetzt, Bilderbuchkunst vom Feinsten. "Noch viele Generationen mögen sich an Tichas Illustrationen reiben", so der Wunsch der Jury.
Fotos:
©buchmesse.de
Umschlagbild
Roger Eberhard
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