Bücherzettel Winter 2022, Teil 2
Thomas Scheben
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Wenn das Wetter mies und die Abende lang sind, empfiehlt sich als Sportart das Umblättern von Buchseiten. Angesichts des Gedenkens an den 175. Jahrestag der Eröffnung des ersten freigewählten deutschen Parlaments im kommenden Jahr nimmt es nicht Wunder, das etliche neue Publikationen diese Ereignissein Frankfurt und Umgebung in den Blickpunkt rücken. Freilich bieten auch andere Blicke in Vergangenheit und Gegenwart einer Großstadtgesellschaft, zuletzt nicht Frankfurts Eintracht, immer Lesestoff. Hier kommt der zweite und letzte Teil des Frankfurter Bücherzettels.
Fußballgötter verehren
Ihren 60. Geburtstag kann die Bundesliga im kommenden Jahr feiern und nur sechsmal war die Frankfurter Eintracht, einer der großen Traditionsvereine des deutschen Fußballs, nicht in der höchsten Spielklasse dabei. Gezählte 490 Spieler haben in dieser Zeit das Adler-Trikot getragen, und sechzig davon, für jede Saison einen, hat der Autor, etliche Jahre Sprecher des Vereins, herausgegriffen.
In der Einleitung geht er der Frage nach, was einen Spieler zur Legende macht: Die Fähigkeit, in jedem Spiel 100 Prozent und immer noch etwas mehr zu geben, zählt ebenso dazu wie unvergessliche Momente, Tore, Paraden oder Spielaktionen. Zu jedem Spieler gibt es auf drei Seiten zunächst einen Saisonüberblick mit einigen Statistiken, ein Porträt des Spielers und seinen „besonderen Moment“ und in einer kurzen Rubrik die „Nachspielzeit“, das Leben nach der aktiven Zeit auf dem Platz. Zum Abschluss kommt auch der „12. Mann“ zu seinem Recht Publikum, Fans und Vereinsmitglieder, die nicht wenig zum besonderen Flair der Adlerträger beitragen.
In der Zusammenschau bietet der Band indes weit mehr als Reminiszenzen, Anekdoten und Schicksale einstiger und aktueller Fußballgrößen. In ihnen spiegelt sich auch die Entwicklung des Ligafußballs von einer Zeit, in der der Torhüter Dr. Peter Kunter noch neben dem Sport seine Zahnarztpraxis betrieb, über die Professionalisierung und Internationalisierung, durch die Trainer aus bodenständigen Größen wie Charly Körbel und – damals sogenannten – „Legionären“ von Island über Schweden, Japan, Ghana oder dem unvergessenen Bum Kun Cha aus Südkorea, Mannschaften formen mussten. Wer einen Eintracht-Fan zu beschenken hat, sollte hier zugreifen – und vorher selbst einmal drin blättern.
Ulrich Müller-Braun: Legenden der Eintracht. 60 Spieler aus 60 Jahren Bundesliga, Societäts-Verlag 2022, 206 Seiten, 18 Euro
`s Schlippche hät liwwer e Katz
Auch im digitalen Zeitalter sind sie noch nicht aus der Mode gekommen: „Anziehbücher“, in denen man eine Figur ausschneiden und anschließend mit ebenfalls ausgeschnittenen Kleidungsstücken behängen oder bekleben kann. Ein herrlich nostalgisches Exemplar dieser Art begleitet ein „Schlippche“ durch das Jahr. So nannte man in Frankfurt kleine Mädchen, die sich mit Schleifen schmückten; das Wort findet sich noch heute im Namen des Karnevalsvereins „Goldsteiner Schlippcher". Zwölf Geschichten, für jeden Monat eine, lassen das Leben im stolzen Frankfurt des Jahres 1910 aus dem Blickwinkel einer Bürgerstochter vor der Einschulung Revue passieren.
Geschrieben sind die Texte in einem moderaten „Frankfodderisch“, das indes auch für „Eingeplackte“ verständlich ist. Und für ganz exotische Vokabeln gibt es am Ende ein Glossar „fier Leut, wo net aus Frankfort un kaa Schlippche sin". Zu jeder Geschichte gibt es einen Schnittbogen mit einem Kleid, das man der ebenfalls vorhandenen Figur überziehen kann, und dafür, dass nichts verlorengeht, gibt es eine Tüte, wo der „ganze Kerschel enoikimmt.“
Der Autorin, Historikerin, Schauspielerin und ausgewiesene Mundartkennerin, ist hier ein seltenes Kunststück gelungen. Für Kinder eignen sich die Geschichten zum Vorlesen, denn so manche Kleinen werden sich in einem Mädchen wiedererkennen, das doch lieber eine Katze als ein neues Brüderchen hätte und sich im Märchentheater vor der Hexe fürchtet. Erwachsene werden beim Selberlesen einiges über die Frankfurter Gesellschaft am Vorabend des Ersten Weltkrieges erfahren, wobei die Autorin zwischen den Zeilen durchblicken lässt, dass diese keineswegs ein solches Idyll war, wie es Nostalgikern erscheinen mag. Ein Geschenk für große und kleine „Frankfodder“ und alle, die es noch werden wollen.
Katharina Schaaf: Geschichte vom Frankforter Schlippche, Edition Pauer 2022, 54 laminierte Seiten, 18 Euro
Demokraten auf die Spur kommen
Das Gebiet, das wir heute als Rhein-Main-Gebiet bezeichnen, war auch im 19. Jahrhundert eine der am besten vernetzten Regionen Europas. Das machte sie fast zwangsläufig zu einem Brennpunkt der revolutionären Aktivitäten, die Europa zwischen 1830 und 1849 in Gärung und schließlich in Aufruhr versetzten.
Zweifellos ist die Paulskirche das bedeutendste, aber eben nicht das einzige Zeugnis dieser Epoche. Zahlreiche Örtlichkeiten erinnern an bisweilen fast vergessene Menschen und Ereignisse, die in der freien Wahl des ersten gesamtdeutschen Parlamentes ihren Höhepunkt fand. Große Volksversammlungen in Petterweil, Laufach oder Erbach, Schicksale verfolgter und gewitzter Revolutionäre in Butzbach, Friedberg oder Hallgarten, gewaltsame oder gar kriegerische Auseinandersetzungen in Frankfurt und Oberlaudenbach bis hin zum apfelweinseligem Marsch der Wörther nach Kleinheubach: Noch immer künden Gebäude, Plätze, mancherorts auch Museen vom Streben nach Freiheit und demokratischer Partizipation, für das viele Menschen auch vor größten persönlichen Risiken nicht zurückschreckten.
Für sieben Routen zwischen Wertheim und Assmannshausen, Bad Homburg und Darmstadt hat die Autorin Erinnerungsorte aufgespürt und beschrieben, an denen man der Geschichte der Demokratiebewegung in der Region nachspüren kann. Zu den begleitenden Texten und Illustrationen und um die Ereignisse selbst begegnet man Personen, die sich heute für Erhalt und Pflege dieses historischen Erbes einsetzen. Dank des handlichen Reiseführerformates passt der Band in jede Tasche, sodass man ihn auf seinen Entdeckungsreisen zu den Kämpfern und Kämpfen für unsere heutige freiheitliche Lebensweise bequem mit sich führen kann.
Sabine Börchers: Routen der Freiheit. Auf den Spuren der Demokratiebewegung in FrankfurtRheinMain, Societäts-Verlag 2022, 237 Seiten, 16 Euro
Urbane Weihnacht er- und überleben
Eine gealterte Rockerin, die mit ihrem Schlagzeuger einen letzten Weihnachtshit aufnimmt, der im Übrigen tatsächlich inzwischen auf CD erhältlich ist, zwei wildfremde Menschen, die im Aufzug steckenbleiben und eine überraschende Entdeckung machen, ein irrwitziges Weihnachtsmann-Casting beim Elternabend, eine Weihnachtsromanze in der Batschkapp, ein Kind, das in bester Absicht fast einen alten Mann umbringt, eine heiligabendliche Materialschlacht mit sinnfrei abgeleierten Ritualen und einem Gottesdienst, der in regelrechter Randale endet: Insgesamt acht solcher Geschichten erzählen vom urbanen Weihnachtsfest.
Manche davon nachdenklich, manche anrührend, manche voller Situationskomik, denn so ganz kann der Autor sein Handwerk nicht verleugnen: überkandidelte Helikoptereltern, ein bis zur Lächerlichkeit zeitgeistige Christgottesdienst mit einer alles andere als friedlichen Gemeinde, die gestresste Familie aus dem Aufsteigermilieu entgehen der spitzen Feder des gelernten Satirikers nicht.
Die Geschichten erzählen vom Weihnachtsfest in der metropolitanen Stadtgesellschaft, außergewöhnliche, aber dennoch keineswegs unwahrscheinliche Alltagsereignisse von Alltagsmenschen, denen man in der Mainmetropole auf Schritt und Tritt in Situationen begegnet, die jeder so oder ähnlich schon erlebt hat. Nur, dass sie alle von einem gewissen Zauber umgeben sind, und Wendungen nehmen, wie sie vielleicht nur die Adventszeit bereit hält – und Lust auf Weihnachten und Weihnachtszeit machen.
Andreas Heinzel: Das kleine Frankfurter Weihnachtsbuch, MainBook 2022, 200 Seiten, 12 Euro
Höchst bremst Braunschweig aus
Vier Jahre schon zog sich der 1618 ausgebrochene Krieg hin, von dessen dreißigjähriger Zukunft damals noch keiner etwas ahnte. Der pfälzische Kurfürst, dessen Wahl zum böhmischen König den Konflikt zwischen protestantischen Kräften und der katholischen Liga losgetreten hatte, stand mit dem Rücken zur Wand. Von mehreren Seiten griffen kaiserliche Heere, koordiniert vom Grafen Tilly, das Stammland des Pfälzers an. Die Armee des Söldnerführers Peter Ernst von Mansfeld bedurfte zu dessen Verteidigung dringender Verstärkung, die sich im Frühjahr 1622 unter Führung des Herzogs Christian von Braunschweig auf den Weg gemacht hatte.
Der musste indes irgendwo den Main überqueren, um sich mit Mansfeld vereinigen zu können, was Tilly tunlichst verhindern wollte. Nachdem der herzogliche Heerhaufen eine Spur der Verwüstung durch Wetterau und Vordertaunus gezogen hatte, traf die Vorhut am 15. Juni vor der Stadt Höchst ein – und fand das Stadttor verschlossen. Der Mainzer Erzbischof hatte die Bürger reichlich mit Waffen und Munition versehen. Versuche, das Stadttor im Handstreich zu nehmen, wies die treffsichere Bürgerwehr mit ihren Musketen ab. Gegen die Hauptmacht hätten sich die kaum 500 Einwohner indes kaum behaupten können, und so machten sie sich in der Nacht auf allen ihren Booten nach Frankfurt davon. Jetzt hatte Christian zwar die Stadt, aber statt der geplanten Schiffsbrücke konnte er nur noch eine wackelige Behelfsbrücke über den Main schlagen lassen, was den Übergang der Truppe und der zahlreichen schweren Fuhrwerke erheblich verzögerte. So musste er sich den heranrückenden kaiserlichen Regimentern zur Schlacht stellen, in der die Kaiserlichen den Abzug des Braunschweigers in ein blutiges Desaster verwandelten, das die Höchster als wahre Sieger des Tages mit ihrem hinhaltenden Widerstand erst ermöglicht hatten.
Der Autor, heute Ökologie-Professor an der Goethe-Universität, hat mit seinem Ausflug in die Geschichte ein Thema aus seiner Höchster Schulzeit aufgegriffen. Den Kämpfen selbst widmet er ungefähr die Hälfte des Textes. Der Rest gilt der Erläuterung des historischen Gesamtzusammenhangs, und mit der Vorstellung der Hauptakteure, ihrer Truppen und Militärtechnik, einer plastischen Schilderung der damaligen Lebenssituation sowie zahlreichen Karten und Illustrationen der Ausbreitung eines lebendiges Zeitbildes dieser dramatischen Epoche. Dadurch hat man auch ohne große Vorkenntnisse seine Freude an diesem farbig und anschaulich geschriebenen Stück fast vergessener Stadtgeschichte.
Markus Pfenninger: 1622 - Die Schlacht von Höchst. Ein Bericht aus dem Dreißigjährigen Krieg, tredition 2022, 216 Seiten, Hardcover 26,95 Euro, Softcover 19,95
Hessen geht auf die Barrikaden
Eigentlich will es so gar nicht zum gediegenen Frankfurter Bürger, zum gemütlichen Rheingauer Winzer oder zum bescheidenen Nordhessen passen. Tatsächlich aber war Hessen, namentlich das Rhein-Main-Gebiet, nicht erst im Revolutionsjahr 1848/49 mit der Paulskirche, sondern schon in den Jahrzehnten davor eines der bedeutendsten Zentren der Opposition gegen Fürstenherrschaft und Kleinstaaterei. Manche waren ihrer Zeit so weit voraus, dass sie schon damals einen vereinten hessischen Staat forderten.
Auch wenn man sich 1848 im Grundsatz einig – Hessen war eine Hochburg der gemäßigten Liberaldemokraten – war, so gab es doch erhebliche Unterschiede in Interessenslagen und Erwartungen, sei es aufgrund regionaler, wirtschaftlicher oder sozialer Zugehörigkeit, und nicht alles war wirklich fortschrittlich oder demokratisch: So forderten Handwerker und kleine Kaufleute ein Ende von Mechanisierung und Industrialisierung, und besonders auf dem Land waren die revolutionären Unruhen häufig von antisemitischen Ausschreitungen begleitet.
Der Autor, ausgewiesener Kenner der Materie, schildert hier nicht nur die großen politischen Ereignisse, sondern widmet sich auch dem Alltagsleben der großen und kleinen Leute dieser unruhigen, von bisweilen existenzieller Not, Aufbegehren und politischer Repression gekennzeichneten Jahrzehnte. Mit vielen Originalzitaten und Abbildungen rückt er die Ereignisse und Akteure an die Leser heran, schildert ihre Ängste und Hoffnungen, aber auch das gegenseitige Misstrauen in der Bevölkerung. Deutlich wird auch, wie die Revolution ungeachtet ihres Scheiterns die Grundlagen unserer heutigen freiheitlich-demokratisch verfassten Ordnung geschaffen hat.
Michael Wettengel: Revolution von 1848/49 in Hessen. Die hessischen Staaten, Nassau, Waldeck und Frankfurt, Waldemar Kramer 2022, 262 Seiten, 22 Euro
An zu viel Schönheit sterben
Am Anfang steht immer der Mord, und hier trifft es eine junge Frau, die überdies brutal verstümmelt aufgefunden wird. Eher zufällig gerät ein wohlhabendes, etwas gelangweiltes junges Frankfurter Pärchen an diesen Fall, da eine alte Bekannte darin verstrickt ist. Sehr schnell trifft man auf einen ausgesprochen geschäftstüchtigen Schönheitschirurgen, der auch vor etwas schrägen Verkaufspraktiken seiner Kunst nicht zurückscheut, und auf seine offenbar leicht sexsüchtige Sprechstundenhilfe mit ebenfalls nicht ganz koscheren finanziellen Ambitionen.
Der Fall und seine Nebenhandlungen, in denen manche der etwas überdrehten Exemplare zeitgenössischer Großstadtgesellschaften vergnüglich überzeichnet werden, treibt die Akteure von Frankfurt ins sonnige Florida und zurück, führt zu einigen Verwicklungen im Gefühls- und Familienleben der Beteiligten und bringt noch eine weitere Schönheit ins Grab. Lange verlieren sich die Amateur-Ermittler in immer neue Spuren, geraten dabei selbst in Gefahr, bis sich schließlich der Horizont aufhellt – und am Ende nichts mehr so ist, wie es am Anfang schien.
Wer Spaß an verwickelten Fällen und Seitenhieben auf die bessere und nicht so gute Gesellschaft einer postmodernen Großstadt hat, wird hier reichlich auf seine Kosten kommen.
Dieter Burkard: Schöner tot, tolino media 2022, 364 Seiten, 14,99 Euro
Foto:
Collage mit Buch-Covern der vorgestellten Werke
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