Serie: Holubs Welt, Teil 1/3
Conrad Taler
Bremen (Weltexpresso) - "Bei der Schriftstellerei tut jeder nicht das, was er will, sondern das, was er kann, und zwar, insoweit es ihm gelingt. Die Kritik darf strenge Gewissenhaftigkeit in jedem einzelnen Punkt von dem Autor verlangen." (Ivan Turgenjew, Väter und Söhne)
Er sei in dieses Buch wie in eine Landschaft hineingewandert, die für ihn Kindheit bedeute, schwärmt Peter Härtling in seinem Vorwort zu Josef Holubs Roman "Der rote Nepomuk", erstmals erschienen 1993 im Beltz Verlag Weinheim und Basel. Gerührt spricht Härtling vom "Bubenparadies" der beiden Hauptfiguren Josef und Jirschi, das Holubs Buch "für uns aufbewahrt" habe. Könnte es sein, dass ihm das Heimweh nach der eigenen Kindheit ein wenig den Blick verstellt hat? Nicht die Knabenabenteuer von Josef und Jirschi bestimmen nämlich den Inhalt, sondern das dramatische Geschehen kurz vor der Besetzung des Sudetenlandes durch die Truppen Adolf Hitlers. Dass Holub ungeniert alte Klischees aus der Rumpelkammer deutsch-völkischer Propaganda benutzt, dass er die Tschechen abschätzig als "Böhmacken" bezeichnet – ist das dem liebenswerten Peter Härtling nicht aufgefallen?
"Der rote Nepomuk" ist eines von drei Büchern, die Josef Holub nach der Wende im Osten für Kinder und Jugendliche geschrieben hat. Der zweite Band mit dem Titel "Lausige Zeiten", erstmals 1997 im Beltz Verlag erschienen, handelt vom Aufenthalt Josefs in einer "Lehrerbildungsanstalt" unter dem Hakenkreuz. Im dritten Band, der 2001 im Beltz Verlag herauskam, geht es um Josefs Erlebnisse in der alten Heimat nach Kriegsende.
Die autobiographisch geprägte Romantrilogie umfasst die Jahre 1938 bis 1946, also jenen Zeitabschnitt, der die Beziehungen zwischen Deutschen und Tschechen bis in die Gegenwart hinein belastet. Wer über diese Zeit redet und wem es dabei um Versöhnung geht, darf nicht einseitig das Geschichtsbild sudetendeutscher Volkstumskämpfer zugrunde legen, er darf es erst recht nicht, wenn er für Kinder und Jugendliche schreibt. Natürlich wollen junge Menschen beim Lesen Spaß haben, aber sie wollen auch richtig informiert werden. Gerade sie haben einen besonderen Anspruch auf Wahrheit; ihr Bild von der deutsch-tschechischen Nachbarschaft, um die es hier geht, wird schließlich ein Leben lang von den Eindrücken bestimmt werden, die ihnen bei der ersten Begegnung mit diesem hochkomplexen Thema vermittelt worden sind.
Holubs "Roter Nepomuk" ist eingebettet in die politische Hochspannung nach dem Wahlsieg der Sudetendeutschen Partei Konrad Henleins im Mai 1938. Neunzig Prozent der Deutschen gaben damals ihre Stimme den Wegbereitern Hitlers. In der kleinen Stadt Neuern am Fuße des Böhmerwaldes, Schauplatz des Geschehens und Geburtsort Holubs, lebten in den 30er Jahren nur wenige Tschechen; ihr Anteil an der Bevölkerung betrug etwa zehn Prozent. Dennoch fühlten die Deutschen sich unterdrückt. Holub illustriert das mit den Worten, die tschechischen Beamten wollten "überhaupt nicht Deutsch reden und verstehen, obwohl sie es alle können. Das kommt davon, weil der Masaryk die Deutschen in Böhmen überhaupt nicht mögen hat."
Was für ein Unsinn, ausgerechnet den ersten Präsidenten der Tschechoslowakischen Republik als Deutschenhasser hinzustellen, ausgerechnet ihn, dessen Toleranz und humanistische Gesinnung selbst seine Gegner nie bezweifelt haben. Nicht von ungefähr nennt ihn Peter Härtling im Vorwort einen "großen Staatsmann". Wem sollen die jungen Leser denn glauben? Nun, vielleicht fällt ihnen ja auf, dass der Verfasser dieses Buches öfter dummes Zeug redet, selbst bei ganz unwichtigen Dingen wie etwa der Frage, wann in Böhmen die Steinpilze reifen. Jeder halbwegs Kundige weiß, dass Steinpilze im Herbst wachsen, auch in Böhmen. Nicht so bei Holub. Bei ihm wachsen sie im Frühjahr, wenn "die Maiblumen weiße Kugeln geworden" (sind) und "die Linden duften".
Auch wenn es um tschechische Wörter geht schwadroniert er einfach drauf los. So schreibt er zum Beispiel: "Zu mir sagt der Tschech podschgej, und das heißt ja bekanntlich komm mit". Podschgej heißt aber nicht komm mit, sondern warte. Wenn Holub sagen will, dass etwas gestohlen worden ist, spricht er von kralovaty. Es gibt aber nur das ähnlich geschriebene Wort kralovati, doch das heißt: wie ein König herrschen. Und wenn Holub Jirschi sagen lässt "Tu es nicht, Pepitschek", dann ist auch das falsch; richtig muss es in diesem Fall heißen: "Tu es nicht, Pepitschku". In keinem seiner drei Bücher bringt er es fertig, das tschechische Wort für Deutsche richtig zu verwenden.
Diese offen zur Schau getragene Unkenntnis und Gleichgültigkeit im Umgang mit der tschechischen Sprache ist Ausdruck der Arroganz gegenüber dem tschechischen "Dienstbotenvolk" und gegenüber den Menschen, deren Muttersprache Tschechisch ist. Abwertend nennt Holub sie immer wieder "Böhmacken". Selbst Josefs Freund Jirschi bleibt nicht verschont. "Der Böhmack freut sich, wie er mich sieht", heißt es über ihn. Josefs Vater legt er die Worte in den Mund: "Es wird zum Krieg kommen, wenn die Böhmacken nicht gutwillig nachgeben". Über eine Wirtshausschlägerei schreibt er: "Die letzten herumsitzenden Böhmacken werden hinausgeschmissen."
Von den Ängsten der Tschechen angesichts zunehmender Drohgebärden des übermächtigen deutschen Nachbarn keine Zeile. Dafür immer wieder das von Hitler missbrauchte Wort "Tschechei" und immer wieder Henleinparolen. "Es wird langsam unerträglich mit diesen Tschechen und höchste Zeit, dass der Hitler kommt." "[...] es wird höchste Zeit, dass Hitler Ordnung macht in dem böhmischen Saustall". "Die Stadt wartet auf den Hitler und die Leute wissen auch, wie dann alles besser wird."
Dass es unter den Deutschen auch Gegner Hitlers gab, verschweigt Holub nicht. Für ihn sind das die "Sozi". Auch der Vater der deutschen Hauptfigur ist ein "Sozi". Gleichwohl schildert er die "Sozi"als Charakterlumpen. "Es gibt keine Sorgen mit der Nahrung. Sorgen machen sich nur die letzten paar Sozi und die Halbtschechen. Sie überlegen, wie sie es anstellen, dass sie noch schnell Henlein werden. Die drei Kommunisten sind schon weg, denn sie wissen, dass sie eingesperrt werden. Weil der Hitler kommt." Ein paar Seiten weiter heißt es: "Plötzlich sind an allen Häusern Fahnen. Ein paar davon sind frühere Sozifahnen, auf die man den Kreis mit dem Hakenkreuz genäht hat." Und weiter: "Die ganze Stadt schreit Heil, auch die Sozi."
Welche Infamie angesichts der Tatsache, dass etwa 6 000 sudetendeutsche Sozialdemokraten von den Nazis verhaftet und in Konzentrationslager gesperrt wurden! Auch über das Schicksal anderer Opfer der Nazis geht Holub salbadernd hinweg. "Warum die Juden fortgehen, weiß kein Mensch. Nicht einmal mein Vater weiß es, und der kennt sich in der Welt und in der Politik gut aus". Hätte es nicht nahe gelegen, den jungen Lesern an dieser Stelle zumindest ein wenig den Blick für die Tragödie der Judenverfolgung zu öffnen? Aber der "Sozi"-Vater hat inzwischen das politische Hemd gewechselt. "Er hat einen Rausch gehabt und sich in den Hof gestellt und alle Welt angeschrien, dass die Henlein eventuell schon richtig sind und dass die Sozi eventuell auch ein paar Haderlumpen sind [...]. Die Sozi wird schon der Teufel holen und das ist kein großes Malör, denn es gibt sowieso keine Sozi mehr [...]. Da haben alle Nachbarn sofort gewusst [...] dass wir Henlein geworden sind." Josef selbst hat damit keine Probleme. "Am Sonntag ziehe ich wie alle Henleinbuben weiße Kniestrümpfe an und der Willibald Traxler und ein Haufen anderer Henleinbuben sind jetzt meine Freunde". Eines Tages wollen die Henleinbuben auf der böhmischen Gendarmeriestation eine Hakenkreuzfahne hissen. Josef macht sofort mit. "Das ist nicht einfach [...]. Dann habe ich gesagt, dass ich die Fahne hinaushänge." Über den Anführer Walter Steiner schreibt Holub: "Die Henleinbuben täten sich für ihn einsperren lassen. Sie mögen ihn. Dabei ist er nur ein ganz gewöhnlicher Strawanzer", ein Herumtreiber also. Die Mutter rät Josef: "Bub, bleib von dem Taugenichts weg. [...] Hinterher meint die dann immer noch, der Steiner bringt es noch zu etwas [...]. Und der Steiner ist [...] sogar noch Minister geworden."
Tatsächlich wurde der "Taugenichts" im wirklichen Leben noch Minister, nicht in Hitlers Großdeutschem Reich, was nahe gelegen hätte, sondern nach dem Krieg im demokratischen Bayern. Sein richtiger Name: Walter Stain. Wie Josef Holub wuchs der Vertriebenenpolitiker Stain in Neuern im Bayerischen Wald auf. Er war Mitglied der Sudetendeutschen Partei, setzte sich aus politischen Gründen nach Bayern ab und schloss sich dem von der NS-Führung gegründeten "Sudetendeutschen Freikorps" an. Standort seiner Einheit war Furth im Walde. Den Einmarsch des paramilitärischen Verbandes in Neuern beschreibt Holub mit den Worten: "Dann tut sich was. Unsere sind es, die vom Freikorps. Das sind die Männer, die über die Grenze nach Bayern desertiert sind, wie der Onkel Kuno und der Nouschel und der Walter Steiner."
Neben Walter Steiner alias Walter Stain lässt Holub im "Roten Nepomuk" ein Mann namens Konrad Zogelmann auftreten. "Der Konrad Zogelmann nimmt einen Stuhl, haut ihn auf den Boden, dass er kein Stuhl mehr ist, und schreit, so macht er es mit allen Böhmacken und Sozi." "Der Zogelmann wird aus der Beneschstraße eine Steinerstraße machen, wenn der Hitler erst einmal da ist." "Der Zogelmann ist dem Hitler seine rechte Hand in der Stadt".
Alles nur Zufall? Wenige Kilometer von Neuern entfernt, in Neumark, kam 1913 der spätere Altnazi Siegfried Zoglmann zur Welt, nach eigenen Angaben seit 1928 "Mitglied der nationalsozialistischen Bewegung", später "Chef der Befehlsstelle Prag der Reichsjugendführung" und SS-Untersturmführer. So wie Stain machte auch Zoglmann nach Kriegsende im Westen Deutschlands Karriere, war Bundestagsabgeordneter der FDP und der CSU, gehörte zeitweilig dem Bundesvorstand der Sudetendeutschen Landsmannschaft an und wurde im Jahr 1973 mit dem Großen Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Schon in Holubs Welt war der Mann zu Höherem berufen: "Ich gehe zum Oberhenlein Zogelmann", erzählt Josef Böhm, "aber der gibt sich mit so einem kleinen Hosenscheißer nicht ab. Er sagt, er hat Wichtigeres zu tun."
"Der rote Nepomuk" wurde mit dem Peter-Härtling-Preis für Kinderliteratur und dem Kinder- und Jugendbuchpreis der Stadt Oldenburg ausgezeichnet und kam auf die Auswahlliste Deutscher Jugendliteraturpreis.
Foto:
Emil Holub
©Forum Austria
Info:
1 Inzwischen hat Peter Härtling sein Urteil korrigiert. "Ihre Rezension führt mir wieder einmal vor," schrieb er dem Verfasser, "wie ein erstes, spontanes Urteil zum Vorurteil wird und keine Einsicht mehr zulässt. Ich habe den ,Roten Nepomuk’ gleichsam gegen mein Gedächtnis und mein Gewissen gelesen: Der Ton machte mir die Musik."
Aus: »Blätter« 6/2004, S. 752-758