Serie: Holubs Welt, Teil 2/3
Conrad Taler
Bremen (Weltexpresso) - In dem Buch "Lausige Zeiten", dem zweiten Band seiner autobiographisch geprägten Romantrilogie, schildert Josef Holub den Aufenthalt seines Helden Josef Böhm in einer Schule der besonderen Art. Seit dem "Anschluss" des Sudetenlandes an das Großdeutsche Reich sind zwei Jahre vergangen. Hitler hat inzwischen halb Europa besetzt und der "kleine Hosenscheißer" ist 14 Jahre alt geworden. Da entscheidet der Vater: "Wer gescheiter werden will, braucht eine bessere Schule"; Josef muss "in die Fremde ziehen".
Mit der Bahn verlässt er am 5. September 1940 seine Heimatstadt Neuern. Nicht weniger als zehn Orte passiert der Zug und haarklein führt Holub all ihre Namen auf. Nur das Ziel der Reise behält er für sich. Die Leser erfahren lediglich, dass Josef am späten Nachmittag "in der Schulstadt" ankommt. Bei der "besseren Schule" handelt es sich nach Darstellung des Autors um eine Lehrerbildungsanstalt. Die Schüler dieser Anstalt tragen eine braune Uniform, werden "Jungmannen" genannt und wohnen in dem Schulgebäude. Vom Direktor erfahren sie: "Der künftige deutsche Lehrer ist in erster Linie ein Führer und der hat zu befehlen. Und wer einmal befehlen will, muss erst gehorchen lernen." Also heißt es jeden Tag: "Zum Morgenappell im Schulhof angetreten! Marsch, marsch!", "Antreten zum Mittagessen!", "Zum Abendessen angetreten, Marsch, marsch!"
Wäre da nicht noch Florian, wüsste Josef nicht, wie er es aushalten sollte, lässt der Verlag im Klappentext potenzielle Leser wissen. Florian ist so etwas wie der Jirschi aus dem "Roten Nepomuk". Die Bubenfreundschaft ist freilich auch diesmal nur Staffage. Im Vordergund steht das Geschehen in der "besseren Schule". Nach Holubs Schilderung sind die "Jungmannen" immer im Dienst. Vormittags haben sie Unterricht, am Nachmittag stehen Kleinkaliberschießen, Handgranatenwerfen oder ein Gewaltmarsch auf dem Programm. Auch die Teilnahme am Leseabend ist Pflicht. Vorgelesen wird aus Joseph Goebbels’ "Vom Kaiserhof zur Reichskanzlei", und gesungen wird: "Ein junges Volk steht auf, zum Sturm bereit, reisst die Fahne höher, Kameraden [...]", "Es zittern die morschen Knochen, der Welt vor dem großen Krieg" und "Kein schön’rer Tod ist auf der Welt, als wer vom Feind erschlagen."
"Jüdische Schnulzen [...] wie zum Beispiel ‘Stille Nacht, Heilige Nacht’" sind unerwünscht. Das findet der "Jungmann" Josef "zum Kotzen", aber ganz fremd scheint ihm rassistisches Denken nicht zu sein. Bei einem Mitschüler sucht er schon mal nach den "richtigen arischen Maßen", und den Satz "Hier stinkt einer nach Judenknoblauch" empfindet er nicht als anstößig. Dass die Tschechen als Slawen gegenüber den Germanen "minderartig" seien, hält er für "Stuss", aber er selbst nennt sie "Menschen zweiter Wahl". Begeistert registriert er die Unterwerfung anderer Völker durch Hitler: "Am Karsamstag haben wir Belgrad eingenommen. Ruckzuck, wie immer." Als die Deutschen sich wenig später "auch Griechenland unter den Nagel gerissen" haben, entlockt ihm das ein triumphierendes "Warum nicht!"
Hat Josef das Gehabe eines Herrenmenschen wirklich in einer Lehrerbildungsanstalt gelernt? Dann hätte er ein Stück weiter bis Budweis fahren müssen, dort gab es tatsächlich eine Lehrerbildungsanstalt. Er ist aber, wie die Beschreibung der Umgebung verrät, in Prachatitz ausgestiegen. Prachatitz ist die geheimnisvolle "Schulstadt". Im südlichen Böhmerwald gelegen war Prachatitz Hauptort des Goldenen Steigs, über den Salz und Getreide von Bayern nach Böhmen transportiert wurden. Eine berühmte Lateinschule gab es dort, zu deren Schülern auch der tschechische Reformator Jan Hus gehörte, und ab 1938 gab es dort auch ein Gymnasium.
Aber Holubs Beschreibung passt weder auf ein Gymnasium noch auf eine Lehrerbildungsanstalt, wohl aber passt sie auf eine Nationalpolitische Erziehungsanstalt, abgekürzt Napola. Diese Anstalten dienten den Machthabern des Dritten Reiches als Instrument zur Auslese von geeignetem Nachwuchs für NS-Führungspositionen. Wer als "Jungmann" aufgenommen werden wollte, musste sich schriftlich verpflichten, "als politischer Soldat des Führers ein rücksichtsloser Verfechter der nationalsozialistischen Weltanschauung" zu sein. Der Schulalltag war – wie in dem Buch "Das Erbe der Napola"2 (Hamburger Edition) weiter nachzulesen ist – bis ins Kleinste durchorganisiert; Unterricht am Vormittag, nachmittags Wehrsportübungen. Ziel sei es gewesen, "die Besten der deutschen Jugend zu fanatischen Nationalsozialisten zu erziehen." Von ähnlichem Zuschnitt waren die Adolf-Hitler-Schulen. In ihnen sollte der Führungsnachwuchs für parteiamtliche Laufbahnen sowie für die nationalsozialistischen Massenorganisationen herangezogen werden.
Niemand hat sich bislang daran gestoßen, dass Kindern und Jugendlichen in "Lausige Zeiten" ein Bild der Lehrerausbildung vorgegaukelt wird, das mit der Wahrheit nichts zu tun hat, und es hat sich auch niemand daran gestoßen, dass das Buch im Jargon der NS-Zeit geschrieben ist. Unbemerkt blieb auch Holubs Vorliebe für die Namen "alter Kameraden" Mitschüler Josefs heißen zum Beispiel Aschenbrenner, Blaschek und Franek. Alle drei verbindet ein gemeinsames Band mit Walter Stain und Siegfried Zoglmann aus dem "Roten Nepomuk": die Zugehörigkeit zum Witikobund, einem Sammelbecken sudetendeutscher Volkstumskämpfer. Von den 600 Mitgliedern des Witikobundes waren 1959 nur etwa 30 keine ehemaligen Mitglieder der Sudetendeutschen Partei oder der NSDAP.
Für "Lausige Zeiten" wurde Josef Holub mit dem Zürcher Kinder- und Jugendbuchpreis "La vache qui lit" ausgezeichnet.
Foto:
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Info:
2 Christian Schneider, Cordelila Stillke und Bernd Leineweber, Das Erbe der Napola, Hamburg 1996.
Aus: »Blätter« 6/2004, S. 752-758