"Frankfurt liest ein Buch“, 2014 DIE VOLLIDIOTEN von Eckhard Henscheid, Teil 4

 

Claudia Schulmerich

 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – An 'legendärem Ort' war das Treffen zum Presserundgang mit Eckhard Henscheid, denn dort, wo einst die Kneipe MENTZ stand und sich heute ein gesichtsloses Haus erhebt, da war die geheime Kommandozentrale derer, denen Eckhard Henscheid seine Stimme leiht.

 

 

Die Ichform des Romans ist keine, hinter der sich ein geschundenes Ich versteckt, sondern ein ganz schlauer Zeitgenosse, der hier im Nordend die Puppen zum Tanzen bringen will, was ihm nur mit Hilfe weiterer Genossen, seinen Beratern mit bürgerlichem Namen Bernd Eilert und Robert Gernhardt, so subtil gelingt, denn die waren diejenigen, die strikt Einspruch erhoben, wenn die Kunstfigur des Erzählers allzu gegenwärtig oder auch mal politisch geworden wäre.

 

Nein, das hier ist der Schelm, der Böses dabei denkt – im Buch. In Wirklichkeit steht hier, wo der Bornwiesenweg in den Oederweg mündet, der VOLLIDIOTEN-Autor Eckhard Henscheid, ganz lieb und zuversichtlich, und ist sichtlich beeindruckt, ja später sogar ein wenig gerührt, wie verändert alles ist und doch so vertraut. Da fällt einem sofort Wolf Biermann ein mit seinem „Nur wer sich ändert, bleibt sich treu...“, aber ob man das für das Nordend nutzen darf. Das Nordend?

 

Ja, leider muß man Nichtfrankfurtern, von denen es so ein paar geben soll, das immer von vorne erklären. Diese kleine Stadt Frankfurt hat unendlich viele Stadtteile. Eines und ein ganz wichtiges, natürlich!, heißt Nordend, weil es sich nördlich des Anlagenrings erstreckt, von dem nur noch der alte Eschenheimer Turm mitsamt der grünen Wallanlage zeugt. Die hatten das alte Frankfurt umrundet und auf beiden Seiten bis zum Main geschützt, die mittelalterliche Stadt, die im März 1945 niederbrannte, weil – ohne Schutz von oben - Bomben fielen und Frankfurt zu weit über 90 Prozent zerstörten.

 

Das wissen die Frankfurter und muß auch Eckhard Henscheid nicht betonen, der sich ganz auf den Rundgang durchs Nordend konzentriert, auf die Straßen und Häuser, in denen sich die Handlung der VOLLIDIOTEN vollzieht. Die Gaststätte, das MENTZ, das man also heute imaginieren muß, war „ein legendärer Ort, hier entzündete sich die Liebe“, murmelt er, während er ein „Ha“, nachschiebt: „Liebe mit Vorsicht nehmen“. Weil sich in Frankfurt immer mindestens zwei Dinge gleichzeitig begeben, war die Journalistenrunde beim Treffen mit Henscheid leicht unsicher, denn zu beiden Seiten des Oederwegs – der übrigens tatsächlich so heißt, weil es dazumal dort in die Öde ging – sammelte sich schnell eine Menschentraube an.

 

Schließlich besuchte die eine die andere. Dort erklärte deren Führer, der Nordendchronist Jörg Harraschain, ein bekannter Grüner und frühere Ortsvorsteher – schönes Wort, klingt wie Ortsversteher - dazu, was sich auf den Stellwänden über die irren Jahre der Siebziger so befände. Es fing nämlich zur gleichen Zeit im Rahmen von FRANKFURT LIEST EIN BUCH diese Ausstellungseröffnung an, für die dieser Harraschain alles, was ihm in die Finger fiel, zusammengetragen hatte zu einer Bilder- und Textwand auf der Straße zu DIE SIEBZIGER IM NORDEND, wobei speziell das Lokal MENTZ im Mittelpunkt stand. Da waren nun die richtigen Trauben aufeinandergetroffen und im Nu war die Sache mit dem Abriß des Hauses und den vielen vielen Abschiedsfeiern im Jahr 1975 – alle auf Fotos! - geklärt. Aber erst 1977 fand dann der Abbruch statt.

 

Sie haben noch den Zusammenhang? Der historische Roman aus dem Jahr 1973 spiegelt das Jahr 1972 und um dieses ging es nun strikt beim Weitergehen. Die Gespräche unterwegs waren auch interessant. „Dort stand die Apotheke vom Richard Kress“, wies Eckhard Henscheid auf die andere Ecke Bornwiesenweg/Oederweg. „Nein“, erwiderte unserseiner, „der hatte eine Drogerie, dort drüben im Oederweg.“ Das Sachwissen war angelebt. Schließlich war das für uns ein Heimspiel, wohnten wir doch schon als Kind in der Nähe und wer Richard Kress war, war für einen Eintracht Frankfurt Fan auch klar. Der hatte sich einst unsterblich gemacht und im Endspiel um den Europapokal der Landesmeister, das was heute die UEFA Champions League ist, die Eintracht in Glasgow gegen Real Madrid mit 1:0 in Führung gebracht. Das bleibt in Erinnerung. Daß die Eintracht dann mit 7:3 unterging, das ist Schutt der Geschichte.

 

Ach, das machte Spaß, mit dem wirklichen Fußballkenner Henscheid – man müßte ihn als Fußballhistoriker bezeichnen, denn das Heute interessiert ihn weniger – sich über damals auszutauschen, denn Henscheids nationale Fußballeistung liegt darin, wie er einst Bernd Hölzenbein in die Deutsche Nationalmannschaft schrieb. Aber das ist eine andere Geschichte und gehört jetzt nicht ins Nordend. Hierher gehört, daß wir aufgeklärt werden, wie dazumal die Wirte für ihre Gäste sorgten. Da „rief nämlich der junge Mentz an, wenn eine halbe Stunde nach der Lokalöffnung noch niemand von uns da war!“ Und so wurde das MENTZ voll.

 

Dort drüben geht’s jetzt in den Oberweg, wo im Haus Nr. 42 die Wohnung der realen Frau Elsemarie Maletzke war, der schnurrigen Romanfigur Frl. Czernatzke, die später zusammenwohnte mit dem Frl. Majewski, die nicht nur die Wohnungen, sondern auch die Liebhaber teilten. Und wir können das – nicht das Teilen, aber den Rundgang - für uns und für Sie, lieber Leser, ganz einfach machen, denn man braucht nur die vorderen oder hinteren Umschlagseiten des Romans anzuschauen, da hat F.K. Waechter den Wegeplan vom Nordend gezeichnet und die wichtigsten Romanereignisse gleich mitnotiert. Auf einen Blick sozusagen.

 

Aber dort kommt der Herr Domingo überhaupt nicht vor, der ja im Roman immer wieder auftaucht, hinter dem sich Wilhelm Genazino verbirgt, was die Sache schon spannend macht. Außerdem wußten wir nicht, daß gleich drei Frauen in dieser Art Wohngemeinschaft lebten und ein Karnickel dazu. Dazu braucht es den Zeitzeugen Henscheid, der uns das Kino KURBEL in Erinnerung rief, das im Philanthropin eingerichtet war, und wenige Meter weiter weg das Hochhaus, in dem auch Pardon residierte, mitsamt seinem autoritären Verleger Hans A. Nikel, dem Scheusal, der das auch mit den Titten und sonstigem Sexualkram Auflagenvorläufern nachmachte, mit denen die kritischen und politischen Artikel verkäuflicher werden sollten.

 

Besonders angetan war Eckhard Henscheid von der Eckenheimer Landstraße Nr. 21, wo einst seine Einzimmerwohnung lag. Und wo auch dieser Kloßen wohnte, unserer Meinung nach die innovativste Figur in den VOLLIDIOTEN, was sowohl seine Einfälle angeht, wie auch die sprachliche Meisterschaft, diese Anpumperei und Ausnehmerei durchzuziehen. Auf dem Rückweg noch das Kaffee Härtlein, wie Waechter das Henscheidsche Café eindeutscht, wo bei Kaffee und Kuchen – nicht immer Bienenstich! - sich Herr Jackopp mithilfe des Verfassers die Idee des Briefeschreibens einverleibt. Ach, dieser Rundgang macht Lust auf das Buch, aber auch Lust auf Kaffee und Kuchen!

Foto: Die Abbildung ist die Titelzeichnung des Romans von K.F. Wächter von der Kneipe MENTZ, um die es im Roman ständig geht und die Ausgangspunkt des Rundgangs war, will sagen: wo sie einst stand. Denn sie ist wie vieles in Frankfurt abgerissen worden, um einem gesichtslosen Hochhaus Platz zu machen.

 

INFO:

 

Eckhard Henscheid, Die Vollidioten, Ein historischer Roman aus dem Jahr 1972, Schöffling & Co 2014