Cover Wilhelm Merton in seiner StadtChristoph Sachße stellt den Gedenkband zum 175. Geburtstag zusammen, Teil 4/4

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Ja, es macht Spaß, den Lebensweg des als William Merton Geborenen genauer zu verfolgen. Dabei fällt auf, daß er nicht nur hinsichtlich als Großindustrieller (Metallgesellschaft) und Sozialreformer zwei Seelen in einer Brust hat, sondern auch die Herkunft des Vaters aus London und das Zuhausesein in Frankfurt zwei Seiten bleiben. Denn er ließ erst als Fünfzigjähriger, also 1898 seinen Geburtsnamen William in Wilhelm eindeutschen und auch zuvor war es erst seine Heirat mit der Frankfurterin Emma Ladenburg1877 und ein Jahr zuvor sein Eintritt in die Frankfurter Firma Cohn sein Bekenntnis zu Frankfurt als Lebensmittelpunkt.

buchvorstellungDas allerdings hat er dann mit aller Kraft verfolgt. Historiker Sachße stellt Mertons anfängliches Dilemma im Kapitel LONDON ODER FRANKFURT – KAUFMANN ODER BANKIER anschaulich dar. So war der Vater Raphael als Siebzehnjähriger 1834 aus London nach Frankfurt gekommen und wurde erst 1855 mit seinen sieben Kindern, die Mutter war gestorben, Frankfurter Bürger. Aber, daß sie die englische Staatsangehörigkeit behielten, zahlte sich später aus. Denn nach der Annektion der zuvor freien Reichsstadt Frankfurt durch Preußen 1866 wurden ja die Frankfurter Preußen, aber Vater Merton ließ die damals noch minderjährigen Söhne Emil und William aus dem preußischen Staatsverband entlassen. Sie sollten keine Preußen werden und Emile ging dann wirklich nach London, heiratete dort und blieb Engländer. Auch William ging nach London, kam aber nach Frankfurt zurück. Vater Raphael dagegen ging nach Paris. Auch das ist im 19. Jahrhundert typisch. Trotz der Grenzen ist ein ständiges Kommen und Gehen, nicht nur in den Geschäften und bei Geschäftsleuten und Bankern, auch zum Beispiel bei den Künstlern.

William, wir können ihn ruhig Wilhelm nennen, wird also Frankfurter und bleibt dies total. Das Geschäft mit den Metallen war groß im Kommen. Die Degussa wurde im Januar 1873 als Deutsche Gold-und Silber-Scheideanstalt gegründet. Metalle waren angesagt, denn die Industrie brauchte Metalle. Allein die Elektrifizierung verschlang Material und auch Kapital, was die Nutzer bezahlen mußten und was zu großen Geldgewinnen führte. Die Vorläufer METALLGESELLSCHAFT gründeten Wilhelm Merton und Leo Ellinger 1880, doch die eigentliche dann 1881 als Aktiengesellschaft.

Ein großer Vorteil der Ausarbeitungen von Christoph Sachße liegt in den ausführlichen biographischen Hintergründen. Wer mit wem befreundet war, wer in welche Familie einheiratete, mit wem man gemeinsam Geschäfte machte, es ergibt sich ein eindrucksvolles Flechtwerk an familiären und freundschaftlichen Strukturen. Beim Lesen möchte man immer ein Diagramm erstellen, aber nicht aus Zahlen, sondern aus den überschaubaren Familien, mit denen Heirat und/oder Geschäfte gemacht wurden. Am Schluß hat man den Eindruck, ist bald jeder mit jedem verwandt. Innerhalb dieser meist jüdischen Schicht, die nicht auf Frankfurt beschränkt war, sondern neben dem Ausland insbesondere Hannover umschloß. Wenn wir heute von Jüdischen Gemeinden einen relativ engen Zusammenschluß der Mitglieder auf religiöser Basis erleben, ist dies das Ergebnis des Versuchs der Nationalsozialisten, möglichst alle Juden durch Ermordung auszulöschen. Bis dahin sollte Jude sein, wer jüdischen Glaubens war.

Die Säkularisierung, die die Aufklärung, aber auch die Industrialisierung mit sich brachte, führte im 19. Jahrhundert massenhaft zu Liberalisierungen der Lebensentwürfe. Wilhelm Merton hat sich zum Judentum als Religion schon früh geäußert, nämlich zu Schulzeiten, er ließ seine fünf Kinder, alle übrigens mit deutschen Vornamen, christlich taufen und trat durch Taufe mit Ehefrau und den Kinder 1899 der reformierten evangelischen Kirche bei, wie der Autor mündlich hinzufügte, wahrscheinlich, weil diese der anglikanischen Kirche, die ebenfalls eine reformierte ist, ähnlich ist.

Welche Bedeutung die Metallgesellschaft erhielt, die zudem Wilhelm Merton zu einem der zehn reichsten Frankfurter machte, kann man mitsamt den metallurgischen Informationen nachlese, wobei neben Kupfer Blei, Zink und Zinn damals die wichtigsten Metalle waren.

Wir wollen noch auf MERTONS WOHLTATEN, wie ein Kapitel heißt, eingehen. Er habe diese genauso diszipliniert und rational in Gang gesetzt, wie seine wirtschaftlichen Unternehmungen. Er setzte auf Strukturen, schuf einen Komplex sozialer Organisationen. Dabei konnte er auf alte Frankfurter Bedingungen zurückgreifen. Denn als freie Reichsstadt, die im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation bis 1806 nur dem Kaiser untertan war, die Frankfurter Juden waren Reichsjuden, waren die Bürgerrechte ausgebaut und einfach lebendig. Adel gab es genauso wenig. Dessen Funktion nahmen bestimmte Familien ein, die auch immer wieder den Bürgermeister der Stadt stellten. Das ist das eine.

Das andere ist das Anpacken der Probleme, die die Auflösung der mittelalterlichen Gesellschaft mit sich brachte, die durch große Nähe und soziale Verantwortung geprägt war. Diese bürgerliche Tradition der Stadt Frankfurt wurde gewissermaßen institutionalisiert. Es wurden Stiftungen gegründet,, die das soziale Engagement mit weiteren Ansprüchen verband. So hatte infolge der Aufklärung Bildung einen neuen Stellenwert erhalten, aber auch kulturelle Teilhabe an Kunst war auf einmal Thema, genauso wie die Wissenschaften. So wurden in Frankfurt als Stiftungen die medizinische von Johann Christian Senckenberg (heute u.a. : Krankenhaus Bürgerhospital) schon im 18. Jahrhundert institutionalisiert, denen die Kunst mit dem Städelschen Kunstinstitut folgte, Auch die gemeinnützige Arbeit der Polytechnischen Gesellschaft von 1819 und das Frei Deutsche Hochstift 1859 sind hier zu nennen, auf die nach gesetzlichen Möglichkeit von Aktiengesellschaften ganz neue soziale Unternehmungen möglich wurden. So hatten reiche Frankfurter als Aktiengesellschaften sowohl den Zoo wie auch den Palmengarten gegründet. Dies konnte erst einmal keinen Gewinn bringen, war aber als Startkapital notwendig, um überhaupt solche Einrichtungen aus dem Boden zu stampfen.

Auf all dem baute Wilhelm Merton auf, weshalb man von ihm als einem philanthropischen Unternehmer der zweiten Generation sprechen kann. Eine dritte gab es dann nicht. Der erste und zweite Weltkrieg legten diesen Welt in Trümmer.

Die gesellschaftliche Funktion von Merton im Frankfurt seiner Zeit war die einer ordnenden Hand. Zwar richtete er auch eigene Wohlätigkeitsorganisationen ein, aber sein Hauptziel war, das Durcheinander und auch teilweise Gegeneinander zugunsten transparenter Strukturen zu ordnen, wobei die Mitarbeiter professionell arbeiten sollten, am besten auf der Grundlage wissenschaftlicher Ausbildung. So richtete er 1890 DAS INSTITUT FÜR GEMEINWOHL ein, dessen erste Aufgabe die Bestandsaufnahme Frankfurter Fürsorgeeinrichtungen war.

MERTONS NETZWERK beschreibt der Autor anschließend im Detail. Das ist für Frankfurter alles höchst lesenswert, denn man kennt die Organisationen und viele der Bezugspersonen noch heute. Manchmal ehr aus dem Straßenverzeichnis. Denn nur die beiden Oberbürgermeister Miquel und Adickes haben eine prominente Alle, die heute ein Automoloch ist. Die Voigtstraße dagegen ist klein und die Ludwig Landmann Straße weiter außerhalb.

Was den Gedenkband wertvoll macht, sind die weiteren Artikel im Buch, die von anderen Autoren entweder erneut Merton zum Thema haben: die Gründung der Metallgesellschaft detailliert von Jürgen Steen, ehemals Historisches Museum, Mertons Berliner Büro von Florian Tennstedt, Ulrich Stascheit schreibt über Charles Hallgarten, Christoph Sachße über Karl Flech und Wilhelm Polligkeit etc.

Dies ist nur ein Abriß eines Buches, das für Frankfurter in jede Bibliothek gehört.

Fotos:
Umschlagabbildung
Der Autor bei seiner Buchpräsentation
©Redaktion

Info:
Wilhelm Merton in seiner Stadt. Gedenkband zum 175. Geburtstag,, hrsg. von Christoph Sachße unter Mitwirkung von Reinhard Oswalt, Verlag Hentrich&Hentrich,, Berlin/Leipzig 2023
ISBN 978 3 95565 592 1