Thomas Glavinic, DAS GRÖSSERE WUNDER aus dem Hanser-Verlag

 

Hanswerner Kruse

 

Berlin (Weltexpresso) - Die Mount-Everest-Saison fällt in diesem Jahr aus - nach dem Lawinenunglück mit vielen Toten werden die nepalesischen Bergführer keine Expedition begleiten. Zu dem Thema passt der wunderbare, vielschichtige und empfehlenswerte Roman von Thomas Glavinic „Das größere Wunder“.

 

Zu Tode erschöpft, halbblind und mit erfrorenen Fingern torkelt Jonas den Mount Everest wieder herunter und futtert im Höhenlager erst einmal ein Paket Butter, so sehr verlangt sein Körper nach Fett. In seinen Höhenrausch-Fantasien springt auch Marie wieder um ihn herum. So endet der letztjährige Roman des österreichischen Autors Glavinic. Das Buch ist kein Bergsteigerbuch, keine Verklärung der Strapazen in der Todeszone des höchsten Berges der Erde. Sondern es ist ein eher metaphorisches Buch über die Bergbesteigung, die natürlich realistisch beschrieben wird, und zugleich die ausführliche Lebensgeschichte des umtriebigen Jonas.

 

Dieser Mann war schon immer ein verrückter Kerl, der nach einer riesigen Erbschaft nur noch machte was er wollte - und das war vor allem Reisen. Als er, noch ein Kind, von einem Liebhaber seiner Mutter grausam misshandelt wurde, „dachte er an den Mount Everest, auf den die mutigsten Menschen der Erde kletterten.“ Jedoch erst als viele Jahre später Marie, seine große Liebe, eine vorübergehende Trennung will, bricht für ihn die, durch sie so sinnvoll gewordene Welt zusammen.

 

Nun erstürmt Jonas mit einer gewissen Todessehnsucht seinen Traumberg, auf dem mittlerweile die Hölle los ist: Gehörlose, blinde oder schlecht ausgerüstete und unerfahrene Bergsteiger kommen massenhaft ums Leben. Wenn sie denn gefunden werden, sitzen oder stehen ihre eingefrorenen Leichen in großer Höhe herum, man kann sie weder begraben noch sonst wie loswerden: „Sagt Dir der Begriff Leichengasse etwas? Nun, da glaubst du, du bist in einem verdammten Wachsfigurenkabinett.“ Immer wieder verlangt es Jonas sich zu ihnen zu setzen, was den sicheren Tod bedeuten würde.

 

Der Roman schildert den Aufstieg und die fantastischen Erfahrungen von Jonas in eisigen Höhen. „Hier gehörte er hin, seit langer Zeit, nun war er da, und was geschehen würde, unterlag nur bedingt seiner Kontrolle.“ Doch die gegenwärtigen Ereignisse werden immer wieder durch ausführliche Rückblenden in seine Kindheit und seine weitere unglaubliche Lebensgeschichte unterbrochen. Nach und nach lesen wir von Jonas versoffener Mutter, den liebevoll von ihm gepflegten, geistig behinderten Zwillingsbruder Mike, seinem Freund Werner. Als er vor der Rabenmutter mit dem Bruder zum steinreichen Opa des Freundes flüchtet, werden beide für immer von ihm aufgenommen. Viel Personal steht dort für die Kinder zur Verfügung, manchmal gibt Jonas sich als Mike aus: „Wer nett zu Mike war, den mochte er. Wer böse zu ihm war, der fand am nächsten Tag Hundekot in seinen Schuhen oder halbtote Mäuse im Bett.“

 

Die Jugendzeit der drei geht tragisch zu Ende, jedoch wollen wir hier die weiteren, zum Teil abstrusen aber immer realistischen Wendungen der Geschichte nicht verraten. Jonas verzweifelte Suche nach Liebe treibt ihn als Erwachsener um die ganze Welt, aber seine Reisen sind verzweifelte Treibjagden, keine Erholungs- oder Entdeckungsreisen, bis er endlich Marie begegnet…

 

Glavinic überrascht den Leser oft durch plötzlich auftauchende Figuren, deren Bedeutung oder Herkunft erst nach einiger Zeit deutlich wird. Dieses Spannung erzeugende Stilmittel macht den Roman ebenso lebendig wie die Sprünge vom Everest herunter in das frühere Leben von Jonas.

 

INFO:

Thomas Glavinic „Das größere Wunder“, Hanser-Verlag, gebunden, 524 Seiten, 22,90 Euro

 

Hintergrund

Der einstige Taxifahrer und Werbetexter Glavinic debütierte 1998 mit seinem Roman „Carl Haffners Liebe zum Unentschieden“. Darin oder in seinen folgenden Büchern erfand der Österreicher seltsame Figuren wie Schachmeister oder Fußballspieler. Der literarische Durchbruch gelang ihm in den 2000er Jahren, besonders nach der Nominierung zum Deutschen Buchpreis mit „Das bin doch ich“. Glavinic ist 41 Jahre alt und lebt in Wien.