6toteEin überraschend eindrucksvoller, sensibler Krimi über einen maorischen Serienmörder in Neuseeland

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Michael Bennett (Ngati Pikiao, Ngati Whakaue) arbeitet als preisgekrönter Regisseur, Produzent und Showrunner für Film und Fernsehen in Neuseeland (Aotearoa), heißt es in der Presseankündigung. Aha, es handelt sich um einen indigenen Autor, der „authentische Einblicke in die Māori-Kultur gibt“. Das stimmt und die ganze Lektüre hindurch spürt man einen Ernst und eine Wahrheit, die einnimmt.

Und vor allem lernt man eine Menge über die, die in ihrer eigenen Welt auf Aotearoa lebten, die Māori bis die Briten Land und Leute bekriegten, besiegten und sich beides einverleibten. Wir leben in aufregenden Zeiten, denn daß der Kolonialismus von Übel ist, ist zwar lange Usus, aber erst in diesen Jahren wird mit diesen Verbrechen richtig aufgeräumt. Zumindest literarisch.

Das Besondere an diesem Roman ist, wie es dem Autor gelingt, in das Krimigeschehen die Geschichte des Landes einzuweben, so daß die Māori-Teile nie künstlich wirken, sondern lebendige Bestandteile der Krimihandlung werden. Und dazu ist dringend eine Polizistin nötig, die ihrer Herkunft nach eine Māoriist. Mit Hana Westerman hat er sie erfunden. Sie lebte bisher ohne tiefere Wurzeln zur indigenen Kultur, hatte sich bewußt für diesen Beruf entschieden und gleich als eine ihrer ersten Amtshandlungen vor zwei Jahrzehnten bei einer lokalen Besetzung eines Berges durch Māoris eine Frau weggeschleift und in den Mannschaftswagen verfrachtet, deren kleiner Sohn schreiend und hilflos zusah und dies niemals vergaß und auch nicht, wer seine Mutter so gedemütigt hatte. Der Sohn ist Raki Poata, der auf dem Weg war, ein anerkannter Wissenschaftler zu werden, bis ihn ein Foto jäh aus seinem bequemen Leben riß und er die Geschichte seines Landes, des angestammten Maori-Landes korrigieren wollte, wenigstens an dieser Stelle.

Warum man den Täter gleich verraten kann, hat damit zu tun, daß er ab der Mitte des Buches bekannt ist und wir beide Seiten, sein Handeln und die polizeiliche Ermittlungsarbeit gleichzeitig verfolgen. Der Schlüssel ist besagtes Foto. Mit ihm, mittels der versilberten Kupferplatte am 5. Oktober 1863 als Daguerreotypie gefertigt sieht man fünf britische Soldaten mit ihrem Hauptmann auf dem Gipfel eines Berges in einem Halbkreis unter einem Baum stehen, über ihnen hängt im Baum ein nackter, gefesselter, längst toter Māori.

Die Polizistin Hana Westerman war verheiratet mit Jaye, Sohn britischer Einwanderer, mit dem sie sich nach wie vor gut versteht, mit dem sie die Tochter Addison hat und der ihr Chef ist. Addison ist eine wunderbare junge Frau, die Konzerte gibt und eine Seelenverbindung mit Raki Poata hat, der sie als Anführerin der Māoris preist. Hier ist also die zweite Verbindung vom Mörder Poata zur Ermittlerin Westerman. In diesem Roman hängt alles miteinander zusammen, nichts ist allein für sich, getrennt, sondern verwoben, so wia im richtigen Leben. 

Trigger des Geschehens ist die Daguerreotypie von 1863. Denn als Raki Poata, der sein Land und seine Urbevölkerung liebt, es entdeckt, kommen auch Kindheitserinnerungen hoch und auf einmal ist er sicher, daß er derjenige sein wird, der die Weisheit seines Volkes verwirklichen kann, nämlich das Gleichgewichts seines geschundenen Volkes in der Natur und im Leben wiederherzustellen: Humarie, Aroha, Manaaki, Frieden, Liebe, Güte und Mitgefühl. Nur gerät Poata in seinem Drang der Wiedergutmachung auf Abwege.

Das ist der Hintergrund für folgendes Geschehen: Ein Nachkomme pro jedem einzelnen Soldaten soll zum Ausgleich für die Ermordung des Maori den Tod finden. Die Abstammungslinien hat Poata in minutiöser Akribie herausgefunden. Und erst nach dem dritten Toten kommt Hana Westerman auf den Zusammenhang. Kurze Zeit später weiß sie, daß ihre Tochter Addison ein zukünftiges Opfer ist, da Jaye nicht der leibliche Sohn seines Vaters, sondern ein Nachkomme eines der damaligen Soldaten ist. Das macht das Geschehen zusätzlich kompliziert, wenn zuvor sich Poata als Lehrender an der Uni und die Studentin Addison schon kennen- und sich gegenseitig außerordentlich schätzen gelernt haben.

Was hier mit schnöden Worten als Handlung wiedergegeben ist, liest sich völlig anders. Denn im Roman fließen die verschiedenen Informationen ineinander, so daß beim Lesen ein ständiger Erkenntnisprozeß läuft. Das ist schon handwerklich sehr gut gemacht. Das Entscheidende aber ist, wie das Wissen um die Māori, deren Geschichte und Kultur die Geschehnisse zusammenhält und so dem Leser, der Leserin ein Gesamtgeflecht von Vergangenheit und Gegenwart, von Männern und Frauen, von Māoris und Neuseeländern europäischer Abstammung , von Schuld und Sühne gibt. Eigentlich nämlich hätte so der Titel lauten müssen: SCHULD UND SÜHNE. Doch den gibt es längst, seit Dostojewski seinen Roman 1866 schrieb, auch wenn der russische Titel heute auf Deutsch Verbrechen und Strafe heißt und der Titel also wieder frei wäre.


PS. Nur verärgert einen die Lieblosigkeit, mit der der Verlag mit diesem Krimi auf der Suche nach Leseanreizen umgeht. Auf der Rückseite steht: „Ein erbarmungsloser Serienkiller auf der Jagd nach Rache.“ Seitenlang versucht der Autor im Buch dem Leser, der Leserin nahezubringen, daß nicht Rache die Morde des Täters motivieren, sondern die gewollte Wiederherstellung von Humarie, Aroha, Manaaki, 
Dann wundert einen auch, daß im Pressetext vom ersten literarischen Fall für Detective Senior Sergeant Hana Westerman die Rede ist, Bennetts Debüt, was ja vermuten läßt, daß weitere folgen. Sie aber kündigt auf der vorletzten Seite?

Foto:
Umschlagabbildung

Info: 
Michael Bennett, 6 Tote, Heyne Verlag, ab 12. Juli 2023
ISBN 978 3 453 42730 3