22 bahnen gebundene ausgabe caroline wahlFRANKFURTER BUCHMESSE 18. - 22. OKTOBER 2023, Teil 20

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Sofort nach der Wahl als Lieblingsbuch des Jahres durch die 950 unabhängigen, weil inhabergeführten Buchhandlungen in Deutschland, besorgte ich mir das Buch. Denn, wer, wenn nicht Buchhändler können einschätzen, was ihre Leser und vor allem die Leserinnen lesen wollen und beim Lesen gut finden, weil sie sich und ihr Leben wiederfinden – oder eben ganz andere.

Auch hier wird die Mehrzahl der Lesenden ein ganz anderes Leben als ihr eigenes vorfinden, aber doch eine bestimmte Gruppe sich auch persönlich angesprochen fühlen; diejenigen, deren Eltern Alkoholiker sind, was heute im Sprachgebrauch zu Alkohlkranken werden soll, denn das, was das Buch zusammenhält und ihm überhaupt die Berechtigung gibt, mehr als eine typische und darum wenig eindrucksvolle Jugendgeschichte zu erzählen, ist die Lebenssituation dieser dreiköpfigen Familie: die zwei Töchter ohne Vater, die Mutter, eine Alkoholikerin ohne Ehemann.

Tilda, die Icherzählerin, studiert Mathematik, schreibt gerade ihre Masterarbeit, verdient sich nebenbei Geld an der Kasse eines Supermarktes, möchte gerne eine Promotionsmöglichkeit an einer Berliner Universität wahrnehmen, traut sich aber nicht, das entschieden durchzuziehen, weil sie für ihre kleine Schwester Ida die Mutter ersetzt.

Diese Ida ist im Roman die einzige, die eine wirkliche Entwicklung durchlebt. Sie ist zu Beginn eine furchtsame, angstbesetzte kleine Person und wird zu einem Mädchen, das Freundschaften schließen kann, sich öffnen und behaupten kann. Und der man, nein, konkret Tilda,  nun zutrauen kann, mit der schwierigen Mutter umgehen zu können. 

Ehrlich gesagt, ist dieser Debütroman zusammengestrickt aus Fäden, die alle eine bestimmte Herkunft und Absicht haben: eine Heldin, die nicht kann, wie sie will, weil sie sich für eine andere, die kleine Schwester notfalls aufopfert, damit diese eine Chance für ein besseres Leben hat, als es die Situation mit dieser Mutter, die zwar 15mal mit dem Trinken, was ein Saufen ist, aufhören will, und auch mindestens 13mal das ganz ernsthaft meint, aber einfach keine Stabilität für ein kleines Kind aufbringen kann.

Damit daraus eine Geschichte wird, muß sich die Situation ändern. Da eine Alkoholikerin nicht auf einen Schlag ihre Sucht bewältigen kann, kann die Veränderung nur in und mit der kleinen Ida geschehen, die im Lauf der Geschichte ihre Ängste bewältigen lernt, Kontakte zu anderen aufnimmt und eine Selbständigkeit entwickelt, daß Tilda ruhigen Gewissens nach Berlin gehen kann. Schließlich hatte Tilda, das denkt sich die Leserin, ja auch die Kurve gekriegt und trotz fehlender Mutter, nein, schlimmer, Fehlen wäre ja noch gegangen, aber hier geht es ja um die immense psychische und physische Belastung durch die ständig betrunkene Mutter, die man wie ein Kind versorgen muß.

Das wäre aber immer noch eine eingleisige Geschichte, wenn bei einem großen Mädchen, die ja eigentlich schon eine junge Frau ist, nicht auch die Liebe eine Rolle spielte. Aber nicht platt, einfach so, sondern mit viel Tragik und emotionalem Hintergrund, denn eigentlich war Tilda mit dem jüngeren Bruder von Viktor befreundet, doch starb der mit den Eltern auf der Urlaubsfahrt in die jugoslawische Heimat.
Das ist – bleiben wir beim Stricken – grobgestrickt der Handlungsfaden, den die Autorin dann mit vielen Dialogen füllt, die auch deshalb so viele werden, weil öfter Redundantes ausgetauscht wird. Es paßt halt alles zu gut ins Konzept des Romans. Die Menschen in ihm verhalten sich so, daß die angestrebte Handlung, daß Tilda in Berlin ihre Dissertation schreibt, möglich wird und trotzdem in ihrem Leben nun auch die Liebe zu einem Jungen, einem Mann möglich wird.

„Ehrlich gesagt“, schrieb ich oben, ehrlich gesagt, ist das ein Armutszeugnis für 950 unabhängige Verlage ein derart durchschaubar konstruiertes Buch als Roman des Jahres auszuwählen. Die Autorin wird sicher weitere Publikumserfolge haben, aber eine ernstzunehmende Schriftstellerin wird sie auf diesem Weg nicht.

P.S. Ach so, akkurat diese 22 Bahnen schwimmt Tilda im Schwimmbad in diesem heißen Sommer, denn sie muß sich eine Struktur geben, um ihr Leben zu meistern.
Eine Eingebung der Autorin gefiel mir überaus: an der Kasse notiert sie im Kopf die Lebensmittel, die ein Kunde einkauft und vermutet daraufhin, wer es ist, ob Mann, ob Frau, ob alt, ob jung, aber da gibt es noch sehr viel mehr Differenzierungen, auf die sie kommt und das ist wirklich witzig.

Foto:
Umschlagabbildungen

Info:
Caroline Wahl, 22 Bahnen, DuMont Buchverlag, 2023
ISBN 978 3 8321 6803 2