KrimiBestenliste von ZEIT; ARTE und NordwestRadio wählt die zehn besten Krimis des Jahres 2011
Elisabeth Römer
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Es geschehen Wunder und Werke. Waren es bis gestern fast ausschließlich die amerikanischen oder amerikanisch gefärbten Krimis, die die Monatsbestenliste anführten und dann massiv auch auf der JahresBestenListe vertreten waren, so sind es in diesem Jahr die Europäer, die zuschlagen. Unter ihnen auch gehörig viele Deutsche.
Warum das so ist, hat sicher auch mit der immer noch zunehmenden Qualität dieser Romane zu tun, die zu den Kriminalromanen zählen, oft aber einfach als ‚Roman‘ fingieren, weil viele Romane um Schuld und Sühne, Verbrechen und Strafe sich herumranken. Bei Dominique Manottis „Roter Glamour“ aus der Reihe Ariadne im Argumente Verlag kommt eine weitere Erzähldimension hinzu, die man als historische Aufarbeitung genauso bezeichnen kann wie als gegenwärtige gesellschaftliche Auswirkungen der Politik von gestern. Roter Glamour ist spannend und lehrreich zugleich, es bleibt nicht bei den persönlichen Beziehungen, sondern alles ist mit jedem verschränkt. Man muß dahinterblicken, um eine Wahrheit zu erkennen, von der jeder weiß, daß sie nicht trennscharf von der Unwahrheit geschieden ist, sondern die Ambivalenz das moderne Leben ausmacht.
Auf dem zweiten Platz der JahresBestenListe liegt schon Friedrich Ani mit „Süden“ aus dem Droemer Verlag. Da geht es um diesen Ex-Kommissar Tabor Süden, der nun Privatermittler ist, sieben Jahre im Exil in Köln verbrachte und dann in die Heimat Bayern eilt, weil sich in der Verwandtschaftsfrage etwas tut. Sein Vater ist aufgetaucht, aber mit ihm auch die Geister der Vergangenheit. Nun ist Süden ja der Spezialist für die Vermißten und er fördert allerhand zutage. Mit Kate Atkinsons „Das vergessene Kind“, ebenfalls aus dem Droemer Verlag ist ein wunderlicher und unter die Haut gehender Roman um verlorene Kinder auf dem dritten Platz gelandet. Verloren und vergessen, geklaut und abgeschoben und umgebracht, alle Varianten von Kindsein werden in diesem Schicksalsroman durchgespielt.
Wir wußten nicht immer, von welchem Kind gerade die Rede ist und was das Geheimnis der verschachterten Kleinen ist, der sich die pensionierte Kommissarin genauso annimmt, wie sie damit endlich einen Lebenszweck fühlt und die Rettung des Kindes für sich mißbraucht. Wir sind aber immer auf ihrer Seite, aber auch auf der des Ermittlers Brodie, dem Kate Atkinson nun schon mehrere Bände widmet, ohne daß er glücklicher wird, oder wenn, nur in sehr kleinen Dosen. Am Schluß gehört zusammen, was als Einzelstränge durch das Buch geistert. Ende gut, nicht alles gut, aber besser als vorher. Nach dem Lesen haben wir jedes Kind sehr viel sorgfältiger angeschaut und liebevoller behandelt.
Auf Platz 4 Peter Temple mit „Wahrheit“, von C. Bertelsmann, das, wenn wir nun wahr sind, wir noch nicht gelesen haben und uns hier jeden Kommentar verkneifen, das Lesen und Kommentieren aber nachholen. Den fünften Rang dagegen, das ist uns ein Lieblingskrimi gewesen, was vor allem an der starken Sechzehnjährigen liegt, die den Tod des Vaters beweisen muß, damit die Familie, die im Wald lebt, unterstützt wird. Daniel Woodrell hat mit „Winters Knochen“ von Liebeskind, einen so eigenartigen und ganz speziellen „Familien“roman vorgelegt, der das Krauss’sche semantische Urteil, das Wort Familienbande habe einen Beigeschmack von Wahrheit, wieder einmal bestätigt. Ein ganz besonderes Buch, dessen Handlung und Personen man im Gedächtnis behält.
Deon Meyer lag mit „Rote Spur“ aus dem Verlag rütten&loening, die letzten Monate weit voran und besetzt hier Platz 6. Ein Spionagethriller, das auch, aber auch ein Familienroman, und ein solider Kriminalroman mit dem Personal, das so normal erscheint, aber dann weltpoltische Bedeutung gewinnt. Geschickt wie die Fußball-WM das Land zum politischen Spielball macht. Das Land? Ja, Südafrika, Schmelztiegel der Welt. Die Plätze sieben bis zehn erkennen Sie in der Liste. Stark Giancarlo de Cataldo, der seinen italienischen Jahrhundertkrimi hier weiterführte. Das alles vor Berlusconi. Was kommt noch?
Lfd. Nr. |
Rang |
Titel |
1 |
1 |
Dominique Manotti: Roter Glamour Aus dem Französischen von Andrea Stephani Ariadne im Argument Verlag, 256 S., 12,90 € Paris/Libanon 1985. Wie tickt die Elite der Franzosen? Zeitbombenmäßig, sexbesessen, machtgeil. Im Schatten des Präsidenten arrangiert Ex-Nazi-Kollaborateur Bornand Raketenschmuggel, Polizeiaktionen, Meuchelmorde. Und stolpert über eine fixe, harte Araberin: Noria Ghozali. Die neuen Geheimnisse von Paris. |
2 |
2 |
Friedrich Ani: Süden Droemer, 368 S., 19,99 € München. Nach sieben Jahren Exil in Köln kehrt Tabor Süden zurück nach Bayern. Sein viele Jahre lang verschwundener Vater war am Telefon. Süden, Ex-Kommissar und neuerdings Privatdetektiv, sucht wie nie zuvor: nach dem Vater, nach Mundl, dem vermissten Kneipier. Südens Comeback zu den Verlorenen. Einzig, großartig. |
3 |
3 |
Kate Atkinson: Das vergessene Kind Aus dem Englischen von Anette Grube Droemer, 460 S., 19,99 € Leeds. 1975 findet die Polizei ein Kind neben der Leiche seiner Mutter. Jahre später klaut eine Ex-Kommissarin die Tochter einer Prostituierten; Privatdetektiv Brodie forscht nach verlorenen Eltern. Grotesk, wütend, liebevoll, unversöhnlich gegen die Kinderschacher-Gesellschaft. |
4 |
4 |
Peter Temple: Wahrheit Aus dem Englischen von Hans M. Herzog C. Bertelsmann, 480 S., 21,99 € Melbourne, Victoria. Nackte Tote in gläserner Wanne. Drei Räuber gefoltert. Vaters Haus vom Waldbrand bedroht. Wahlkampf in Victoria. Tochter auf Droge. Stephen Villani, Leiter der Mordkommission, ist klug, kein mutiger Mann, aber tapfer im Sturm des Jetzt. Bester australischer Roman 2010. Verbrechen als moderne australische Lebensform. |
5 |
5 |
Daniel Woodrell: Winters Knochen Aus dem Englischen von Peter Torberg Liebeskind, 224 S., 18,90 € Tief in den Ozarks, Missouri. Jessup, bester Meth-Koch im Tal, ist verschwunden. Sein Haus ist für die Bewährungskaution verpfändet. Die sechzehnjährige Ree muss Vater Jessups Tod beweisen, sonst landet sie mit Mutter und kleinen Brüdern auf der Straße. Ree steht’s durch, härter als alle. Country Noir, original vom Erfinder. |
6 |
6 |
Deon Meyer: Rote Spur Aus dem Afrikaans von Stefanie Schäfer rütten&loening, 626 S., 19,99 € Kapstadt/Südafrika/Simbabwe. Eine Hausfrau, ein Leibwächter und ein Ex-Polizist stoßen vor der Fußball-WM auf eine Geheimaktion von weltpolitischer Bedeutung. Meyer ist raffinierter denn je. Spionage-, Abenteurer- und Detektivroman, meisterhafte Spannungsliteratur. |
7 |
7 |
Giancarlo de Cataldo: Schmutzige Hände Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl Folio, 376 S., 22,90 € Italien 1992-93. Fortsetzung des grandiosen „Romanzo Criminale“. Politik & Mafia, Geheimnis & Gewalt, Liebe & Betrug. Die Cosa Nostra bombt, Polizist Scialoja dealt, Geheim-Agent Rossetti schickt geheime Killer los. Italien vor Berlusconi. Autor & Richter de Cataldos Binnensicht: ein Thrill der Tatsachen. Italiens Dunkelwelten. Bravourös, notwendig. |
8 |
8 |
James Sallis: Der Killer stirbt Aus dem Englischen von Jürgen Bürger und Kathrin Bielfeldt Liebeskind, 256 S., 18,90 € Phoenix, Arizona. Ein Junge, von den Eltern verlassen. Ein Berufsmörder, dem Kraft und Augenlicht schwinden. Ein Detective, dessen Frau stirbt. Ein Mann sucht den Mörder seines Vaters. Er will ihm danken. Leben – Sterben. Ein Buch vom Alleinsein: seltsam, traumhaft, betörend, hart. „Ihr müsst hinschauen!“ |
9 |
9 |
Norbert Horst: Splitter im Auge Goldmann, 350 S., 8,99 € Dortmund/holländische Grenze. Ein Mädchen ist ermordet, der Täter verurteilt. Soweit klar. Thomas Adam, der „Steiger“, sollte das auch so sehen. Eine neue Zeugenaussage verstärkt seine Zweifel, er ermittelt weiter. Gegen Vorgesetzte und besseres Wissen. Hohe Falldichte: Norbert Horst ist selbst Kriminalkommissar. Und ein toller Schreiber. |
10 |
10 |
Jan Costin Wagner: Das Licht in einem dunklen Haus Galiani Berlin, 312 S., 19,99 € Turku/Helsinki/Karjasaari, 1985 und 2010. Engel haben keine Namen. Kommissar Kimmo Joentaas verschwundene Freundin so wenig wie die im Koma liegende Frau. Auch der Todesengel nicht, der erst die Todkranke und dann alle umbringt, die ihr Gewalt angetan haben. Finnische Mysterien. |
Der Weltexpresso kommentiert monatlich die KrimiBestenliste, die von Tobias Gohlis in Gang gehalten wird, wie nun auch die Erstellung der JahresBestenListe: Das Beste vom Besten. Immerhin erscheinen übers Jahr verteilt über 1200 Kriminalromane auf Deutsch. . Selbst ausgefuchste Leser verlieren angesichts dieser Masse den Überblick. Orientierung bietet so auf jeden Fall die monatliche KrimiZeit-Bestenliste von ZEIT, ARTE und NordwestRadio. Aber wir haben auch schon erlebt, wie sehr der klassische amerikanische Detektivroman die Herrschaft angetreten hat und so gute europäische Gewächse, die uns näher stehen, unterpflügt. Von daher kommentieren wir die Liste aus der Sicht der Leser, der Liebhaber, nicht der ‚Experten‘, was immer das ist.
An jedem ersten Donnerstag im Monat geben Literaturkritiker und Krimispezialisten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz die Kriminalromane bekannt, die ihnen am besten gefallen haben und die auf der Monatsliste ihren Platz finden. Sie halten nach dem literarisch interessanten, thematisch ausgefallenen, besonderen Kriminalroman Ausschau. Die besten Zehn werden mit Bibliographie und Kurzbeschreibung hier veröffentlicht und kommentiert.
Die Jury:
Tobias Gohlis, Hamburg, Kolumnist DIE ZEIT, Moderator und Jury-Sprecher der KrimiWelt Volker
Albers, Hamburg, Hamburger Abendblatt, Herausgeber „Schwarze Hefte“
Andreas Ammer, Berg, „Druckfrisch“, Dlf, BR
Sven Boedecker, Zürich, Sonntagszeitung
Fritz Göttler, München, Süddeutsche Zeitung
Michaela Grom, Heidelberg, SWR
Lore Kleinert, Bremen, Radio Bremen
Thomas Klingenmaier, Stuttgart, Stuttgarter Zeitung
Ekkehard Knörer, Berlin, Perlentaucher, Crime Corner
Kolja Mensing, Berlin, Tagesspiegel
Ulrich Noller, Köln, Deutsche Welle, WDR
Jan Christian Schmidt, Berlin, Kaliber 38
Margarete v. Schwarzkopf, Köln, NDR
Ingeborg Sperl, Wien, Der Standard
Sylvia Staude, Frankfurt/M., Frankfurter Rundschau
Jochen Vogt, Literaturwissenschaftler
Hendrik Werner, Bremen, DIE WELT
Thomas Wörtche, Berlin, Kolumnist Freitag, Plärrer
In der Jury der KrimiWelt-Bestenliste hat es einige Veränderungen gegeben: Kathrin Fischer und Jochen Schmidt sind ausgeschieden. Neu hinzugekommen ist Jochen Vogt, einer der wenigen akademischen Literaturwissenschaftler, der den Kriminalroman schon vor Jahrzehnten erforscht hat.
Alle weiteren plazierten Krimis entnehmen Sie bitte den Krimi-Besprechungen in den vormonatlichen Artikeln, die Sie unter Kultur. Bücher oder unter dem Autorennamen im Archiv finden. Dreimal darf ein Buch einen Platz bekommen, dann scheidet es aus und hat nur noch die Chance, in der Jahresbestenliste wieder aufzutauchen.
Vorgestellt wird die KrimiZeit-Jahresbestenliste 2011
- im NordwestRadio ab Donnerstag, den 29.12.2011 mit Tobias Gohlis gegen 8.50 Uhr im Nordwestradio Journal, nachzuhören unter http://www.radiobremen.de/nordwestradio/serien/krimizeit/index.html
- unter www.arte.tv/krimiwelt mit Rezensionen der Juroren, Kommentaren des Jurysprechers („What’s New?“) und weiteren Informationen zu Büchern und Autoren („Krimiautoren A-Z“)
- bei ZEIT online am 29.12.2011. Beachten Sie auch den Rückblick auf das Krimijahr 2011 in der ZEIT/Print.