Bildschirmfoto 2024 04 14 um 00.32.04Non Omnis Moriar. Der polnisch-jüdischen Dichterin zum Gedenken, Teil 1/2

Elvira Grözinger

Berlin (Weltexpresso) - In Deutschland kennt man diesen Namen immer noch zu wenig, wiewohl er in den letzten Jahren etwas stärker ins Bewusstsein der Fachkreise und Interessierten gerückt und eine Auswahl ihrer Gedichte in deutscher Übersetzung erschienen ist. Während die in deutscher Sprache schreibenden ermordeten jüdischen Dichterinnen wie Gertrud Kolmar (eigentlich Gertrud Käthe Chodziesner, 1894 Berlin- März 1943 Auschwitz) oder die junge Selma Meerbaum-Eisinger (1924 Tschernowitz, damals Königreich Rumänien - Dezember 1942 Zwangsarbeitslager Michailowka) inzwischen als die Größen der Literatur gelten und deren Werk verbreitet und erforscht wird, muss Zuzanna Ginczanka erst entdeckt werden. Ginczanka war auch in Polen lange vergessen, dabei ist sie eine der bedeutendsten jüdischen Dichterinnen polnischer Sprache und wurde erst in den letzten drei Jahrzehnten von polnischen Literaturwissenschaftlern wiederentdeckt.

Geboren wurde sie 1917 als Sara (oder Zuzanna) Polina Gincburg in Kiew, Ukraine, die damals noch zu Russland gehörte, aber in jenem Jahr für drei kurze Jahre als unabhängige Ukrainischen Volksrepublik existierte, bevor sie von der Sowjetunion annektiert wurde. Ihre Eltern, litauische Juden, modern und aufgeklärt, sowie ihre Großeltern emigrierten kurz nach dem Ausbruch der Oktoberrevolution nach Polen. Sie wuchs in Równe (heute ukrainisch Rivne) in Wolhynien auf. Zu Hause sprach die Familie Russisch, sie brachte sich selbst Polnisch bei und veröffentlichte 1931 ihr erstes Gedicht in dieser Sprache - "Uczta wakacyjna" (Schulferien-Schmaus) - in der Gymnasialzeitung. Ihr Vater war Schauspieler, der seine Familie verließ und nach Berlin, später in die USA auswanderte, während ihre Mutter einem tschechischen Bierbrauer folgte und in Spanien wieder heiratete. Um ihre einzige Tochter kümmerte sich fortan ihre Großmutter, die Drogeriebesitzerin Klara Sandberg.

Ginczanka erhielt nie die polnische Staatsbürgerschaft, obwohl sie das polnische und nicht das jüdische Gymnasium besuchte und bereits im Alter von zehn Jahren begann, Gedichte auf Polnisch zu schreiben. Sie bewunderte den berühmten und einflussreichen jüdischen polonisierten (und meinen Lieblings-) Dichter Julian Tuwim (Lodz 1894 – Zakopane 1953) und bat ihn um Rat. Er schlug ihr 1934 vor, an einem Lyrikwettbewerb teilzunehmen, und sie gewann prompt einen Preis mit ihrem Gedicht "Grammatik". Dies öffnete ihr die Türen zu den polnischen renommierten Literaturzeitschriften jener Jahre - wie den Wiadomości Literackie (Literarische Nachrichten) - und Ginczanka wurde Mitglied der bekannten Literatengruppe Skamander, in der sie die einzige Frau war.

Die Gruppe Skamander und ihre Zeitschrift existierten von 1918 bis 1928 und von 1935 bis 1939. Gegründet wurde sie von den Dichtern Julian Tuwim und Jan Lechoń (eigentlich Leszek Józef Serafinowicz, Warschau 1899 -New York City 1956), ebenfalls einem Juden, und war somit die Zielscheibe antisemitischer Angriffe. Die Gruppe führte Alltagsthemen und Umgangssprache in die Dichtung ein, ihre Mitglieder und Mitarbeiter waren die führenden polnischen Schriftsteller ihrer Zeit, einige weitere von ihnen jüdisch, wie Antoni Słonimski (1895 Warschau - ebda. 1976) und Józef Wittlin (Dmytrovytschi, Ukraine – New York City 1976). Tuwim überlebte den Krieg in den USA, wohin er und Lechoń auswanderten, aber sie zerstritten sich und Lechoń nahm sich dort das Leben. Wittlin floh in die USA und blieb in der Emigration bis zu seinem Tod im Jahr 1976. Słonimski, der nach London geflohen war, und Tuwim kehrten ins kommunistische Polen zurück. Giczanka aber blieb in Polen und überlebte den Krieg nicht, denn sie wurde nach ihrer (zweiten) Denunziation im Dezember 1944 ins berüchtigte Gestapo-Gefängnis Montelupich in Krakau gebracht, in dem auch der Judenretter Oskar Schindler zwei Mal inhaftiert war. Sie überstand diesmal die Verhaftung nicht und wurde nur wenige Wochen vor der Befreiung der Stadt durch die Rote Armee im Januar 1945 von den Nazis ermordet!

Nach dem Abitur im ukrainischen Równe ging die junge Dichterin nach Warschau, um an der Fakultät für Geisteswissenschaften Pädagogik zu studieren, änderte ihren Namen in Zuzanna Ginczanka und nahm aktiv am literarischen und gesellschaftlichen Leben der Hauptstadt teil. Dort war sie Stammgast im Bohème-Café Ziemiańska mit Tuwim und anderen bekannten Schriftstellern. In der Zwischenkriegszeit wurde sie, als schöne und exotisch aussehende Frau, zu einer Legende. Man nannte sie "Stern von Zion", "die jüdische Gazelle" oder "die schöne Jüdin". Männer bewunderten sie nicht nur wegen ihres Talents, sondern vor allem wegen ihres auffälligen Aussehens mit der gebräunten Haut und verschiedenfarbigen Augen – eines grün und das andere blau -, wie sich der Dichter Jan Śpiewak, der sie 1934 kennenlernte, erinnerte. 1936 veröffentlichte Ginczanka ihren einzigen Gedichtband O Centaurach (Über die Kentauren). Es waren mythologische Wesen mit männlichem Torso und dem Unterleib eines Hengstes, die als wilde Kreaturen bekannt sind, die viel trinken, jagen sowie Frauen und Nymphen vergewaltigen. Sie werden von ihr in erotischer, ausdrucksstarker Sprache beschrieben, eine Weise, auf die auch die Kunstgeschichte bei ihrer Darstellung der Kentauren rekurriert.

In dieser Zeit wachsender politischer Spannungen veröffentlichte Ginczanka, antifaschistische und bissig-satirische Gedichte in den Literarischen Nachrichten, Skamander und Szpilki (der Wochenzeitschrift Nadeln, der führenden satirischen Zeitschrift, in der männliche Autoren dominierten). In den 1930er Jahren wurde Polen zu einem ausgesprochen antisemitischen Land mit faschistischen Tendenzen, insbesondere nach dem Tod von Marschall Józef Piłudski 1935, der judenfreundlich war, obwohl er 1934 sogar einen "Nichtangriffspakt" mit Hitler geschlossen hatte. Dieser Pakt war Teil seiner strategischen Politik gegenüber den Nachbarstaaten, die darauf abzielte, die nach dem Versailler Vertrag entstandenen territorialen und durch nationale Minderheiten versurachten Konflikte zu entschärfen. Josef Goebbels besuchte am 15. Juni 1934 Polen und rief in seiner Rede an der Warschauer Universität zur "Verteidigung gegen die Juden" auf. In den letzten Vorkriegsjahren nahm Ginczankas Poesie melancholische Züge an und stand dem polnischen „Katastrophismus“ nahe, einem Genre, das sich in Prosa, Lyrik und Essays findet und vor allem in den Jahren 1930-1939 entwickelt wurde, als die Dichter die Gefahr spürten, in der sich Polen vor der Besetzung durch die Nazis befand, während sich ihre Vorahnungen während des Krieges bewahrheiteten.

Als Hitler am 1. September 1939 Polen überfiel, floh Ginczanka in den Osten, nach Lemberg, nahm eine Stelle als Buchhalterin an und heiratete den Kunstkritiker Michał Weinzieher. Sie versuchte, ihre jüdische Herkunft zu verbergen, aber ihr auffälliges Aussehen war nicht "arisch". Die untergetauchte Jüdin war ständig in großer Gefahr, und wie erwartet wurde sie an die Gestapo denunziert, höchstwahrscheinlich von der Haushälterin des Mietshauses, in dem sie wohnte, von einer Frau namens Chominowa. Ginczanka erwähnte diese Informantin in ihrem berühmtesten, prophetischen Gedicht "Non omnis moriar", über das ich später noch sprechen werde. Der Dichterin und ihrem Mann gelang jedoch 1942 die Flucht nach Krakau, das aber von Deutschen besetzt war, und es war nur eine Frage der Zeit, bis sie auch dort verhaftet werden würde. Dies geschah nach einer weiteren Denunziation Ende 1944 und führte zu ihrer Hinrichtung. Nach dem Krieg wurde sie zu Unrecht als "verschwundene Figur" in der polnischen Literatur bezeichnet, und nur Freunde und Kollegen hielten die Erinnerung an sie wach, bis sich die Polonistik in den 1990ern für sie zu interessieren begann.


Ginczankas Poesie - jüdische Tradition und kulturelles Welterbe

Ginczankas frühe Gedichte waren sinnlich, sie priesen das Leben und die Liebe und erwähnten oft die Biologie und Physiologie der Frau. Sie betonte und benutzte ihre verlockende Weiblichkeit und Schönheit als Pfeil, der auf die männlichen Zeitgenossen zielte, sowohl auf ihre zahlreichen Bewunderer als auch auf ihre antisemitischen Feinde. In Równe, wo viele Juden lebten, bürgerlich und wohlhabend, waren sowohl junge Mädchen als auch ältere Frauen gelangweilt und nicht selten promiskuitiv, sichtbar für alle. Ginczanka beschrieb eine von ihnen drastisch und realistisch - einschließlich der erworbenen venerischen Krankheiten des jungen Mädchens, das in ihrem Alter war - in dem Gedicht "Ein Vorfall".

Diese Kühnheit teilte Ginczanka mit der jiddisch schreibenden Dichterin Anna Margolin (1887 Brest, Weißrussland – 1952 New York City), auf der Suche nach intellektueller und spiritueller Identität, deren Themen Angst, Einsamkeit und sexuelle Spannungen waren. Eine weitere Wesensverwandte war Celia Dropkin (1887 Bobruisk, Weißrussland -1956 New York City). Dropkins avantgardistische erotische Poesie schockierte und faszinierte ihre Leser, da sie über die Liebe und die Erfahrung von Depression, Sehnsucht und Ablehnung schrieb und dabei sexuelle Handlungen nicht ausließ. Ihre Dichtung ist sehr radikal, mit sadomasochistischen Elementen, was jüdische Feministinnen inspirierte. Diese haben Ginczanka allerdings noch nicht wirklich entdeckt.

Die Gedichte Ginczankas wie die der in den USA lebenden Frauen waren sprachlich kunstvoll, Ausdruck einer Rebellion gegen ihre bürgerliche, unfreie Existenz und Erziehung in der Provinzstadt am Rande Polens, sie waren sehr frauenbezogen, und enthielten oft, obwohl sie mit ihren jüdischen Wurzeln kämpfte, biblische Motive. Ginczankas Sensualismus war ihr Weg, die Realität im optimistischen Klima der Nachkriegsjahre, als Polen wieder unabhängig wurde, poetisch auszudrücken, jedoch nicht ohne von der Spiritualität begleitet zu werden. Ginczanka lehnt sich gegen die Beschränkungen auf, die ihr das weibliche Geschlecht auferlegt, indem sie androgyne Figuren schafft: halb Frau - halb Vogel in dem Gedicht "Żar-Ptak" oder halb Mensch - halb Pferd in "Kentauren". Ihre mythischen Figuren stellen oft ein Alter Ego der Dichterin dar, hinter einer Maske, die ihre Sensibilität und Verletzlichkeit verbergen.

Ginczanka bemühte sich sehr, eine polnische Dichterin zu werden, was sich auch in ihrer sprachlich kunstvollen und innovativen Poesie äußerte, aber sie blieb als Frau und Jüdin auch unter den damals prominenten männlichen jddischen Autoren, die selbst diskriminiert wurden, eine Außenseiterin. Das ist eine Tatsache, die dem damals noch vorherrschenden Patriarchat zugeschrieben wird, in dem Frauen es schwer hatten, die ihnen gebührende Anerkennung zu finden. So wurde sie in den polnischen Literatenkreisen Kreisen herablassend als "Tuwim im Rock" genannt und beschuldigte man sie während ihres Aufenthalts in Lemberg fälschlicherweise der Kollaboration mit den Kommunisten, ein typischer Fall der rechten, antisemitischen Haltung, die bis heute in Polen Juden mit dem Kommunismus gleichsetzt: „Żydokomuna“.

Mythen und Traditionen verschiedener Kulturen waren die Quellen ihrer Dichtung, aus der griechischen Mythologie (ihre "Kentauren") oder aus dem Fernen Osten im frühen Zyklus der „Chinesischen Märchen von La-lita“ über eine Geisha aus Lehm, die von einem sie liebenden Mann in eine reale Person verwandelt wird, was sowohl auf den griechischen Mythos von Pygmalion wie auf den jüdischen Mythos des Golems anspielt. Ginczanka bezog sich auch auf die germanische Mythologie (Siegfrieds Gedicht) und natürlich die ihr vertraute jüdische Tradition. Eines ihrer Stilmittel war die Lautmalerei und in ihren frühen Gedichten war Ginczanka stark vom französischen und belgischen Symbolismus des 19. Jahrhunderts (Baudelaire, Mallarmé, Verlaine, Huysmans) beeinflusst, weniger jedoch von der sich davon unterscheidenden russischen symbolistischen Bewegung am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Symbolisten experimentierten mit freien Versen und neigten zur französischen Décadence- Bewegung in der Literatur der 1880er Jahre bis zur Jahrhundertwende, die bewusst antibürgerlich, antimoralisch, normverletzend (sie galten als „sexbesessen“) anti-realistische Zeitkritik übten. Dazu gehörte der Typus der erotisch-verführerischen femme fatale, welcher Männer erliegen. Die dämonische Anziehungskraft dieser Frauen lockt sie ins Verderben. Ihr Prototyp war schon die altbabylonische Figur der Lilith, die auch in der jüdischen Kabbala eine wichtige Rolle spielt und heutige Feministinnen anregt. Die Vorläuferin in der Moderne war z.B. John Keats‘ (1795-1821) La Belle Femme sans Merci. Zuzanna Ginczanka spielte mit dieser Figur in ihrem Leben und Werk. In ihren späteren Gedichten weicht das sinnliche Erleben der Wirklichkeit dem Kennenlernen der Welt durch die Kultur, sie werden realistischer und politisch unverblümter. Im Folgenden werde ich zwei ihrer bekannten Gedichte vorstellen. Sie schrieb nicht viele explizit jüdische Gedichte, und ich werde hier nur "Canticum Canticorum" (Lied der Lieder) und ihr berühmtestes Gedicht "Non omnis moriar" (Ich werde nicht gänzlich sterben) erörtern.1

Fortsetzung folgt

Foto:
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(https://slowopolskie.online/prezentacja-ukrainskiego-przekladu-tomiku-zuzanny-ginczanki/)

 

Info:
Zum Gedenken an Zuzanna Ginczanka verlegte der Künstler Gunter Demnig am 26. Juli 2018 am Theaterplatz der heute ukrainischen Stadt Riwne einen Stolperstein.
2021 veröffentlichten Hanna Kubiak und Bernhard Hofstötter die deutsche Erstausgabe von Gedichten Zuzanna Ginczankas.