Bildschirmfoto 2024 04 14 um 03.17.33Non Omnis Moriar. Der polnisch-jüdischen Dichterin zum Gedenken, Teil 2/2

Elvira Grözinger

Berlin (Weltexpresso) - Es schäumen die Weinbeeren,/ Duftende Narde/ Überflutet schwer die Obstgärten -/ Ich weidete die Herden meiner Brüder/ In sonnenerfüllter Hitze -/ Deswegen ist mein Teint dunkel;/ Die tintenblaue Nacht summt./ Der von gelben Sternen/glühende Himmel wird zu Asche/ Ich verberge meine lodernden Augen/ Im Zypressenwald der Wimpern,/ Als wären sie die Teiche von Heschbon. "Oh, meine Liebste, mach auf - / Ich durchlief den Obstgarten - / Ich habe lose Tautropfen in den Locken - / Deine Lippen gib mir ein weiteres Mal, / Damit ich wieder rate, / Ob du Äpfel vom Abend trankst." /"Wie soll ich dir aufsperren/Die knarrende Tür -/Wenn ich die Roben ablege,/Werden mich die Mütter dreifach verfluchen,/Und die Ziegenherden/Werden keine süße Milch geben."
Die tintenblaue Nacht summt,/Und des Weinbergs Pfropfen schwanken,/Und Feigenblätter -/ Und ich kann nicht einschlafen./Ich mache die hölzernen Tore breit -/Mein Liebster ist aber verschwunden./Der Duft von Safran und Kassia strömt./ Das Öl tropft/Und die Myrrhe tropft auf die Türklinke./Der Pfad verschwimmt langsam/wie eine aufgetrennte Naht./Hinter der Veranda eine schwarzäugige Düsternis./
/Ich suchte ihn – und fand ihn nicht. Ich rief nach ihm/ - Doch er antwortete nicht. (Und schön ist er als Stern, /Wie der Himmelsgrund - / Jeder wird ihn daher erkennen). /Ich beschwöre euch, Mägde in den Wohlgerüchen,/Durch ein Reh ,/Durch ein Reh des Waldes/Durch die Hindin, die plötzlich erscheint wie ein Hieb:/Sucht nicht vorzeitig nach Liebe,/Weckt sie nicht,/Bis sie selbst zu euch kommt.

Ginczanka verwendet den biblischen Text als Liebesgedicht mit direkten Zitaten "Und so ist mein Teint dunkel" (Hohelied 1,6 – bei Luther: „Ich bin braun, aber gar lieblich“); "Ich suchte; aber ich fand ihn nicht" (nach Luther 3,1-2) für ihre eigene Botschaft. In ihrem Fall ist diese Liebe jedoch unerfüllt. Das Hohelied Salomos ist im biblischen Kanon durch seine Sinnlichkeit einzigartig, wird allerdings gedeutet als eine Liebeserklärung an Gott. In metaphernreicher Sprache beschreibt es ein Liebesverhältnis, das nichts anderes ist als die zwischen einem Mann und einer Frau.
Ginczankas Poesie war sehr feminin und „Frauendinge“ bewegten sie. Auch ihre Figuren – wie etwa die der Demeter, welche ihre Tochter und damit einen Teil ihrer selbst verliert – zeigen ihr Engagement für eine selbstbewusste und erfüllte weibliche Existenz in einer Zeit, in der die Anerkennung der Leistung von Frauen hart erkämpft werden musste.

Der biblische Text des Hohenliedes, der in der Pessachwoche gelesen wird, ist ein unverblümt sinnlicher Lobgesang auf die körperliche Liebe und das Liebespaar: Er beschreibt ihre Körper, ihre Gerüche, die Berge und Hügel, auf denen sie sich vereinigen. Gott wird darin nie erwähnt (das Hohelied ist eines von nur zwei biblischen Büchern mit dieser Besonderheit - dieses und das Buch Esther), noch gibt es irgendetwas ausdrücklich Religiöses im Text selbst. Es gibt darin auch keine moralische Belehrung, kein Nachdenken über das Wesen des Glaubens noch Ermahnungen zur Umkehr, keine Geschichte des israelitischen Volkes und auch keine sonst für biblische Texte typischen Eigenschaften. Vielmehr werden hier ein Mann und eine Frau beschrieben, die einander sexuell begehren. Aber die jüdische Tradition besteht seit Jahrtausenden darauf, das Buch nicht als Liebesgedicht, sondern als Allegorie für die Liebe zwischen dem jüdischen Volk und Gott zu lesen. Dies wurde lange Zeit als Folge des rabbinischen Unbehagens an der expliziten Erotik des Textes betrachtet, denn bei Rabbi Akiva, dem großen talmudischen Weisen, heißt es: "Alle heiligen Schriften sind heilig, aber das Hohelied ist das Allerheiligste". Weniger bekannt ist, dass Akiva sogar noch radikaler erklärt, dass derjenige, der das Hohelied als erotische Poesie liest, keinen Anteil an der kommenden Welt hat. Es wird auch erklärt, dass sich Salomos Hochzeit auf die Übergabe der Tora auf dem Berg Sinai bezieht, König Salomo selbst (dessen Name wörtlich "König des Friedens" bedeutet) auf Gott, und der Tag der Freude auf den zukünftigen Wiederaufbau des Tempels. In der polnischen Bibelübersetzung, die ich besitze (Warschau 1957), heißt es im Kommentar: "Die Kirche wünscht sich, mit Jesus Christus wieder vereint zu werden"... Das war definitiv nicht Ginczankas Auffassung.

Ein weiterer Rekurs auf die Bibel findet sich in ihrem erschütternden Gedicht, das als ihr Testament und Prophezeiung zugleich gelesen werden muss, denn die Forschung datiert es zwei Jahre vor ihrem Tod (Sic!) nach der ersten Denunziation durch ihre Vermieterin. Es wurde auf wundersame Weise durch einen Freund gerettet, auf einem zerknüllten Blatt Papier und er ließ 1946 es in der ersten Literaturzeitschrift Polens nach dem Krieg, Odrodzenie (Wiedergeburt), in Krakau veröffentlichen.

„Non omnis moriar“ (Ich werde nicht gänzlich sterben, 1942)
Non omnis moriar – meine stolze Habe,
Meine Wiesen an Tischtüchern, uneinnehmbare Festungen der Schränke,
Weite Lakenflächen, kostbare Bettwäsche,
Und Roben, helle Roben, werden nach mir bleiben.
Ich habe hier keinen Erben hinterlassen,
Mag also Deine Hand die jüdischen Sachen durchwühlen,
Du, Frau Chomin aus Lemberg, Du brave Spitzelgattin,
Flinke Denunziantin, Mutter des Volksdeutschen.
Sollen sie den Deinen dienen, denn warum den Fremden,
Meine Lieben – es ist keine Laute und auch kein hohler Name
Ich vergesse Euch nicht, Ihr habt, als die Gestapo kam,
Auch an mich gedacht. Die haben sich meiner erinnert.
Mögen sich meine Freunde mit ihren Pokalen setzen
Und auf mein Begräbnis anstoßen wie auch auf deren Reichtum:
Kelims, Gobelins, Schalen und Kerzenleuchter –
Trinken sollen sie die Nacht durch, doch bei Tagensanbruch
Beginnen, nach Edelsteinen zu suchen und Gold
In den Sofas, Matratzen, Bettdecken und Teppichen.
Ach, wie ihnen die Arbeit dann zügig von der Hand geht,
Knäuel von Rosshaar und Seegras
Wolken zerfledderter Kissen, Wolken aus Bettfedern,
Werden an ihren Händen haften, und beide in ein Flügelpaar verwandeln;
Da wird mein Blut das Werg mit dem frischen Daunen verkleben
Und jäh die die Geflügelten zu Engeln machen.

Das Gedicht erlebte zahlreiche Interpretationen, frappierend ist die Anspielung auf das biblische Zitat aus Psalm 22,19: „Sie teilen meine Kleider unter sich und werfen das Los um mein Gewand“. Diese Zeile wird auch im Johannes-Evangelium (19,24) den römischen Soldaten bei der Kreuzigung Jesu in den Mund gelegt. Ginczanka bezieht sich hier auf Psalm 22, 16-18: "Denn Hunde haben mich umringt, die Schar der Bösen hat mich umzingelt, sie haben meine Hände und Füße durchbohrt. / Ich kann alle meine Gebeine zählen; sie schauen und starren mich an. /Sie zerteilen meine Kleider unter sich und werfen das Los über mein Gewand." Diese Zeilen symbolisieren die Gier der Mörder eines unschuldigen Menschen und bestätigen, was später erwiesen wurde, dass in der Nazizeit die lokale Bevölkerung häufig den Besitz ihrer jüdischen Nachbarn raubte und sich dabei bereicherte. Hellsichtig beschrieb es die Dichterin mit bitterem Sarkasmus. Aber es war kein Zeichen besonderer Religiosität, denn Ginczanka war gebildet, auch in der antiken Literatur zu Hause, worauf der Titel des Gedichts mit den Versen von Horaz hinweist: "non omnis moriar; multaque pars mei vitabit Libitinam" (wörtlich: nicht alles von mir wird sterben; und ein großer Teil von mir wird dem Grab entgehen). Libitina ist die Göttin des Todes, der Leichen und der Begräbnisse aus den Oden, III, 30,1: "Exegi monumentum aere perennius" (ich habe ein Denkmal errichtet, das dauerhafter ist als Bronze). Horaz richtete sein Gedicht an die Muse der Tragödie Melpomene, er meinte damit den universellen und unsterblichen Charakter der großen Poesie und inspirierte über Jahrhunderte hinweg viele europäische Dichter, die jedoch nur selten erwähnt wurden.

Ginczanka kannte bestimmt diese Gedichte in polnischer und russischer Sprache. Dazu gehörten die des polnischen "Nationaldichters" Adam Mickiewicz (1798-1855), der in seinem Gedicht "Exegi monumentum" den russischen, deutschen und österreichischen Feinden, die Polen unter sich aufteilten und die polnische Kultur und Literatur unterdrückten, mit Selbstironie die Stirn bot. Er behauptete, er sei in Litauen und Weißrussland sehr berühmt, wohin ein Jude seine Bücher schmuggle... Das ist nicht gerade ein Weltruhm für einen Poeten, der heute als einer der größten europäischen Dichter gilt, aber genau das ist Mickiewicz' Humor. Auch der russische "Nationaldichter" Alexander Puschkin (1799-1837) schrieb sein Gedicht "Exegi monumentum" mit dem Vers "Non omnis moriar" (1836 geschrieben und 1841 post mortem veröffentlicht), das Ginczanka höchstwahrscheinlich ebenfalls kannte. Wie Mickiewicz rühmt Puschkin seinen Ruhm beim Volk, weiß aber, dass nicht alle ihn auf diese Weise ehren werden. Bei dem zu den bedeutendsten polnischen Dichtern gehörenden Juliusz Słowacki (1809-1849) konnte sie in seinem kurz vor seinem frühen Tod verfassten Gedicht „Testament mój“ (Mein Testament) ebenfalls Horaz‘ „Exegi Monumentum“ finden.

Ginczanka hat gewiss sehr genau ihren Mentor und 20 Jahre älteren Kollegen Julian Tuwim (1894-1953) gelesen. Er hatte ein sentimentales vierstrophiges Gedicht "Do losu" (An das Schicksal) unter Verwendung von "Non omnis moriar", im Zyklus Biblia cygańska (Die Zigeunerbibel, aus dem Jahr 1933) verfasst. Darin äußert er Freude darüber, dass sein Leben bisher ein glückliches war, da ihm ein dichterisches ("apollinisches") Talent, Ruhm und genügend Geld zuteil wurden. Dieses Leben ist eines mit einem Lächeln, aber nicht ohne Melancholie: Der Ruhm des Dichters wird zwar bestehen, der Körper jedoch nicht. Tuwims letzte selbstironische Bemerkung ist, dass "Non omnis moriar" lächerlich klingt, und der Dichter es vorzieht, trotz der ständigen Angst vor dem Tod, ein angenehmes Leben des "carpe diem" (nutze den Tag) zu führen. Und er schrieb auch einen Vierzeiler mit dem Titel "Exegi monumentum", ein Liebesgedicht, in dem er sich selbst als einen Grabstein beschreibt, auf dem der Name der Geliebten eingraviert ist.

Aber Ginczanka, die nicht nur in der griechischen und römischen Mythologie zu Hause war, was sie in zahlreichen Gedichten bewies, kannte auch den hinduistischen Veda. Hier aber zitiert sie Horaz wie die anderen Dichter, wobei sie sich in ihrer besonderen Situation als verfolgte Jüdin auch auf den Psalm mit Davids Klage bezieht: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen“ und seiner Bitte um Gottes Beistand, „denn Hunde haben mich umgeben,/und der Bösen Rotte hat mich umringt“…. Dieses Gedicht, ihr einziges bekanntes aus dem Krieg, wurde wahrscheinlich zwei Jahre vor ihrem Tod geschrieben, nachdem sie das erste Mal, wahrscheinlich von ihrer Vermieterin denunziert, worden war. Wie gesagt, die zweite Denunziation war für sie die dann tödlich. Die Angst und die Todesahnung sprechen aus ihren Zeilen. Wie durch ein Wunder wurde das Gedicht von einem Freund als zerknittertes Papierknäuel gefunden, gerettet und 1946 in der ersten polnischen Nachkriegs-Literaturzeitschrift "Odrodzenie" (Auferstehung) in Krakau veröffentlicht.

Über die "jüdischen Dinge" hat Ginczanka noch nie so gesprochen wie hier, außer in ihrem Gedicht "Łowy" (Die Jagd, 1937), in dem sie die Jagd auf eine jüdische Großmutter beschreibt, als wäre sie ein Tier. Die Beute ist gefangen, die Jäger triumphieren. Der Pogrom ist ein Erfolg. Auch dies war eine Vorahnung der Dinge, die da kommen sollten - vor dem antisemitischen Hintergrund der Vorkriegszeit in Polen, als an den Universitäten der Ruf nach einem „Sitze-Ghetto“ für jüdische Kommilitonen erschallte. Sie höhnt über die „ritterliche Tradition“ der Treibjagd auf Juden. Und in dem Gedicht "Ballada o Żydziaku" (Ballade über einen Jidden - nicht datiert) erzählt sie die Geschichte eines frierenden, armen rothaarigen Juden, der auf der Straße mechanisches Spielzeug verkaufte und gemobbt wurde - sie verwendet hier den jiddischen Ausdruck! - "Meschiggener Motl" (verrückter Motl) von den Peinigern. Er lächelte immer, ohne die Kälte zu spüren, aber einmal beschloss eine junge Frau, die mit ihrem Liebhaber vorbeikam, ein grünes Hündchen und ein gelbes Vögelchen bei ihm zu kaufen. Plötzlich brach Motl in Tränen aus, denn er spürte die Kälte zum ersten Mal durch seine dünne Kleidung hindurch…Viele polnische Juden der Zwischenkriegszeit hatten Probleme mit ihrer Identität. Ginczanka, die sich äußerlich vom Jüdischsein befreite und versuchte, eine polnische Dichterin wie Julian Tuwim zu sein, hat in der Zwischenkriegszeit erkannt, dass ihr Schicksal untrennbar mit der jüdischen conditio humana verbunden war. Tuwim hat auch ein Gedicht dieser Art geschrieben, "Żydek" (Das Jüdchen, 1924), über einen armen jüdischen Jungen, der in den Höfen der Mietskasernen bettelt, während er früher ziemlich drastisch über Juden und ihren "Jargon" (die jiddische Sprache) herzog, mit denen er nicht gleichgesetzt werden wollte. Da sich die Antisemiten aber nicht um seine Distanzierung von seinen Brüdern kümmerten und Tuwim angriffen, musste er lernen, sich mit ihnen zu solidarisieren. Und wie bei Ginczanka kam auch bei ihm die späte Identifizierung mit dem Judentum. Tuwim veröffentlichte 1944 in London sein berühmtes Poem, ein Manifest "My Żydzi Polscy" (Wir, die polnischen Juden), nachdem er erfahren hatte, dass seine Mutter von den Nazis ermordet worden war. Er, der Pole, ist nun ein polnischer Jude geworden.

Ende 1944 wurde Ginczanka im Alter von erst 27 Jahren ermordet, und die polnische Literatur verlor ein Ausnahmetalent. Jetzt im 80. Jahr nach ihrer Ermordung, sollte ihr Name auch in Deutschland unvergessen bleiben.

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