Mucki CoverJörg Sielaffs neues Buch über seine Tochter "Mucki"

Hanswerner Kruse

Schlüchtern (Weltexpresso) - Jörg Sielaff (84) veröffentlichte bereits einige Bücher mit eigenen biografischen Geschichten. Durch die letzte Erzählung „Lisbeth“ wurde er zum Literaten, als er sich in die spannende Lebensgeschichte seiner Schwiegermutter in Ich-Form hineinschrieb. Sein neuer Text ist ein kleines Sachbuch über seine Tochter „Mucki“ geworden, die vor fast fünfzig Jahren mit dem Down-Syndrom geboren wurde. 

Jörg Sielaff
Es war damals ein Schock für ihn und seine frühere Ehefrau, sie vermissten sachkundige Unterstützung für Eltern eines Kindes mit dieser Besonderheit. Sielaff widmet nun anderen Eltern dieses Büchlein, das sowohl „Muckis“ recht positive Entwicklung als auch seine Freuden und Schwierigkeiten mit ihr beschreibt. 

„Muckis“ Geburt fiel in die Zeit, als 1975 die Psychiatrieenquete der Bundesregierung feststellte, dass die Zustände in den westdeutschen Irrenanstalten „unmenschlich“ seien. Geistig behinderte, psychisch kranke und alte Menschen wurden mit auffälligen Kindern zusammengesperrt, vegetierten in riesigen Wachsälen, viele waren ständig gefesselt. 



Als der Verfasser dieser Zeilen, Hanswerner Kruse, zehn Jahre später ein Praktikum in einer Psychiatrie im Taunus machte, lernte er den gleichaltrigen Norbert mit Down-Syndrom kennen. Der wurde als Kleinkind mit der Pseudodiagnose „Mongoloide Idiotie“ in diese Anstalt abgeschoben, Von Medizinern als „bildungsunfähig“ etikettiert, wurde er ständig gefesselt und lernte niemals laufen, sprechen oder selbständig essen. Ein ähnliches Schicksal blieb „Mucki“ erspart, denn Sielaff und seine damalige Frau verweigerten die Abschiebung ihres Kindes in eine Anstalt, zu der sie gedrängt wurden. Sie fanden dagegen viel Unterstützung durch anthroposophische Einrichtungen und die „Lebenshilfe“.

Ihre Tochter war nicht krank, sie „litt“ nicht am Down-Syndrom, sondern war einfach anderes als andere Kinder. Lebenspraktische Dinge lernte Sie langsamer, aber sie kann sich unglaublich gut in andere Menschen hineinversetzen und viel Empathie entwickeln. Sie hat ihren eigenen Willen, ist aber oft freundlich, gleichsam ein „Sonnenschein“, wie sie von Vielen genannt wird. Wenn sie sensibel die Abneigung anderer Menschen spürt, kann sie allerdings ziemlich giftig werden.

Mucki verkleidet„Mucki“ ist sehr musikalisch, besitzt vielleicht ein absolutes Gehör. Als sie ein Instrument lernte und manche Lieder nicht weiterspielen konnte, sang sie die Melodien einfach fehlerfrei weiter. Sie lernte Kulturtechniken, schrieb Tagebuch mit Unterstützung, konnte Radfahren und entwickelte ein hervorragendes Gedächtnis. Auffällig sind ihr Wortwitz und der spielerische Umgang mit der Sprache, auch in Konfliktsituationen oder nach schmerzlichen Ereignissen wie dem Tod der Mutter. Sie „bildete in ihrer Traurigkeit neue Worte. Sie ist jetzt in der »Schrecktrauer« und »Schocktränen« kommen aus ihren Augen. Mucki fühlte sich im »Tränenschock« und »Trauerschmerz«“, schreibt Sielaff. „Es hat sich ausgeklimpert“, meinte sie, als sie nicht länger Klavierspielen wollte.

Spielerisch schafft sie sich gelegentlich eigene fantastische Welten, in denen sie Verstorbene wie ihre Mutter Ursula oder erfundene Personen trifft. Sie liebt auch Verkleidungen oder Verwandlungen (bild rechts), um eine andere zu sein. Doch das sind weder „verrückte“ noch „behinderte“ Verhaltensweisen, denn sie kann sehr wohl zwischen Wirklichkeit und Fantasie unterscheiden.

Sielaff verklärt nicht die Probleme, die „Mucki“ mit anderen Menschen hatte oder er mit ihr. In Gesprächen konnte sie Wichtiges nicht von Unwichtigem trennen. Sie fühlt sich manchmal durch andere gestört, nimmt aber nicht wahr, wenn sie andere Menschen nervt. Immer wieder gab es Auseinandersetzungen in ihren Wohngruppen oder in den Werkstätten, in denen sie arbeitete. Man braucht viel Geduld mit „Mucki“, wusste Sielaff, die aufzubringen fällt ihm immer schwerer jetzt wo er selber älter wird.

Jörg Sielaff: „Mucki. Leben mit Down Syndrom“, Paperback, 112 Seiten. 9 Euro
ISBN 9 783758 329029, BoD-Verlag

Fotos / grafische Bearbeitung:
© Hanswerner Kruse

Zitate:

„Mucki hat eine große Freude an Wortschöpfungen und Wortveränderungen, wie zum Beispiel: Armleuchter, Armlehne, Lehnstuhl und ähnliches. Das Wort Kerzenfieber sprach sie zum ersten Mal aus, als sie sich beim Kerzenausblasen über die Kerze beugte und die Kerzenwärme an der Stirn spürte.“

„Mucki nimmt alle Gespräche um sie herum auf und beschäftigt sich lange noch mit dem Inhalt. Sie ist nicht in der Lage zu selektieren, was für sie wichtig ist und was nicht. Dadurch kommt sie nicht zur Ruhe und vor dem Zubettgehen wird vieles von ihr noch einmal bedacht oder erwähnt. Für ihre dafür erforderliche längere Zeit benötige ich inzwischen viel mehr Geduld als früher. Wenn ich dann noch bemängele, dass sie so laut spricht, kommt manchmal die Antwort: »Ich bin nicht laut, ist der Weihnachtsmann oder manchmal auch Frau Schulze!« In ihrer Schulzeit hatte sie oft die Frau Schulze als die Verantwortliche ihrer Handlungen oder ihrer Worte genannt.“