Hanswerner Kruse
Berlin/Schleswig (Weltexpresso) - „Die provinzprostituierte Schlangendarstellerin schlug ihre mit Blättern verzierten dschungelbestrapsten Beine übereinander, klatschte beglückt die Schlangenleder-Handschuhe zusammen.“ So beschreibt Joachim Meyerhoff in seinem sechsten Buch, neben zahllosen anderen Anekdoten, den Auftritt der Schlange Kaa in einer Kindervorstellung des „Dschungelbuchs“.
Wieder einmal, bereits unabhängig von den Inhalten, ist es auch in seinem neuen Text die faszinierende Sprache und bildhafte Erzählweise Meyerhoffs, die einen in den Bann zieht. Allerdings ist der Schauspieler und Autor kein literarischer Stand-up-Comedian. Trotz seiner humorvollen schrägen Blicke auf alltägliche oder dramatische Ereignisse mit witzigen Wortspielen, taucht er tief in seine Empfindungen und Beziehungen ein. Gerade dadurch kann er zu tristen Erlebnissen und miesen Erfahrungen ohne Larmoyanz Abstand nehmen.
Am radikalsten gelang ihm diese literarische Erschaffung einer anderen Wirklichkeit im letzten Roman über seinen Schlaganfall. Immer noch ist der Ich-Erzähler erschöpft und ausgelaugt, von seinem „Schlagerl“, wie die Wiener dazu sagen: „Jedes meiner Organe schien maßlos enttäuscht von mir zu sein und genug von mir zu haben.“ Aus Österreich zieht der Autor nach Berlin um, doch er findet sich in der Stadt nicht zurecht, findet auch hier nicht zu sich.
Deshalb beschließt er für längere Zeit seine Mutter in Schleswig zu besuchen. Die selbständig dort lebende, quicklebendige 86-jährige ist eine wirklich außergewöhnliche, skurrile Frau, die ihren Sohn (und uns Leser) immer wieder überrascht und ständig zum Lachen bringt.
Bereits das Abholen vom Bahnhof wird zur dramatischen Komödie, die alte Dame rast und überholt wie närrisch mit ihrem kleinen roten Auto, ihr angebissener Döner platscht durchs Auto und der heimkehrende Junge muss sich übergeben. Später lädt sie 20 ältere Chorschwestern zum Feiern ein. Mit dem Sohn geht sie abends nach getaner harter Gartenarbeit schwimmen und bringt ihm Whiskytrinken bei. Nachts klettert sie behend aufs Dach um mit ihm die Sterne zu sehen.
Nach gut drei Monaten wirkt der Autor geheilt, seine ruinierte Beziehung zu Frau und Kind in Berlin wird langsam geklärt. Aber Meyerhoffs Buch ist keine durchgehende Heilerzählung, die Reise zur Mutter und die verrückten Ereignisse mit ihr, sind lediglich die Basis der Geschichte. Der Schreiber collagiert diese Rahmenhandlung assoziativ und wenig chronologisch mit Erinnerungen an theatralische Ereignisse, eigene Kindheitserlebnisse oder Episoden der alten Dame.
Eigentlich sollte beim täglichen Schreiben in Schleswig ein Werk mit dem Titel „Scham und Bühne“ über seinen Beruf als Schauspieler entstehen und darüber, wie der „Schlagerl“ ihn aus der Bahn warf. Doch durch die Kraft und Lebensfreue seiner „Mama“ - die er nervigerweise durchgehend so nennt - verschiebt sich während des Schreibens der Fokus stark auf sie.
Nach 300 Seiten, nach Meyerhoffs kindlicher Radfahrerprüfung oder dem Verlust von Spielgeld während eines Auftritts im Film „Bibi und Tina“, reicht es aber mit den kleinen Geschichten. Doch nun folgt der eigentliche Höhepunkt des Buches. Der Autor fährt mit seiner Mutter zur Lesung einer Auswahl seiner - bei ihr entstandenen - Texte. Es ist der erste Auftritt seit langer Zeit, doch er wird in Lübeck von einer Panikattacke überwältigt und kann nichts vorlesen.
Hier werden uns Lesern die Nachwirkungen seines „Schlagerls“ noch einmal schmerzhaft bewusst. Die „Mama“ übernimmt die Lesung, liest das bedeutsame und berührende Kapitel über sich selbst und wird dafür vom Publikum begeistert gefeiert. Dennoch geht es dem Autor besser, denn „Man kann auch in die Höhe fallen“, bald reist er zurück nach Berlin. Am Bahnhof kauft die Mutter einen Döner und rast davon: „Ich hörte Hupen, beugte mich vor und sah zur Kreuzung hinüber. In leichter Schräglage sauste der knallrote Wagen um die Kurve und verschwand.“
Foto:
Meyerhoff, Porträtbild
aus Wikipedia © C.Stadler/Bwag
Info:
Joachim Meyerhoff, „Man kann auch in die Höhe fallen“, Verlag Kiepenheuer und Witsch 2024, 368 Seiten, 26 Euro