Frank Nonnenmacher, „DU hattest es besser als ICH“, Zwei Brüder im 20. Jahrhundert im VAS Verlag

 

Heinz Markert

 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Die „Nonnenmacher-Biographie-Montage“ (wechselnd zwischen zwei Brüdern) bedeutet: Verschränkung der Lebensgeschichten zweier Menschen im 20. Jahrhundert mit einem gewalttätigen Geschichtsprozess, wo soziale Schicksale extremster Art im Wechsel zu beschreiben sind.

 

Ausgeliefert-Sein und trotzdem nicht Untergehen (Wollen) war die „Lebensleistung“ der Brüder, sie blieb es unter dem fatalen Geschichtsdiktat bis zuletzt. Aber was wäre nicht ohnehin Diktat von Umständen einer Geschichte, die über die Köpfe geht.

 

Mit dieser Kennung versehen kann das 347-seitige Buch, das formsicher und gut lesbar erzählt - verfaßt von Frank Nonnenmacher, dem männlichen Nachkommen des einen Bruders Gustav - als Lebensgeschichten-Werk bezogen auf zwei Brüder gesehen werden, das zur Verwendung über die Zeiten hinweg empfohlen werden kann, da es soviel Exemplarisches, Wissenswertes über unser aller Herkommen – zumal beispielhaft Deutsches – vermittelt, auch und insbesondere für heutige und kommende jüngere Generationen.

 

Vorherrschendes Thema: die an Lebensgeschichten und persönlichen Erfahrungen entlang behandelte Barbarei, die inmitten einer Kulturnation stattfand. Warum verfällt Kultur periodisch in Barbarei? Was hängt da wie zusammen? Ist die menschliche Ungesichertheit etwa das Problem?

 

Der zeitliche Bezug: 100 Jahre. Die Geschichte der zwei Brüder erstreckt sich über ein Säkulum. Dies ist ein zeitlicher Rahmen, der zu analytischen Einsichten führen kann. Für die dahinter stehende Großwelt fällt auf: im Hinblick auf Gewalt und Barbarei ist die menschliche Art, bzw. Gruppen ihrer Vertreter, immer noch auf dem Stand, daran hat sich wenig geändert. Jeder Tag ist Beleg dafür.

 

Bedingung der Geschichte des Bruderpaares: soziale Not, Elend der Mehrheit der Angehörigen der Kulturnation. Mutter ist Mini-Jobberin im Wäscherei-und-Bügel-Dienstleistungssektor, wie es heute schnell so daher gesagt wäre, ohne Implikationen genügend zu bedenken. Als versorgender Elternteil – Männer machten sich ab oder verleugneten sich - vermochte sie es nicht anders, als ihre Jungens nur unter Entbehrungen und Frustrationen zu versorgen, durchzubringen, wie es damals üblich war, und wie gegenwärtig auch wieder. Nur der eine aber, Ernst, hatte seine Mutter zunächst noch. Der andere, zweite Junge ging über ihre Möglichkeiten.

 

 

Ernst (1908 - 1989)

 

Ernst blieb, unterversorgt, in ihrer Nähe, entglitt ihr dann aber zusehends. Gelangte in eine nicht den Gesetzen entsprechende Entwicklung jugendlicher Art hinein, wenn auch nicht von wirklich schweren Übertretungen begleitet. Es ging um kleine Delikte, die der Versorgung dienten. Heimaufenthalt lief seiner stolzen Haltung zuwider, auch das beständige Arbeiten für Hungerlöhne. Beides schlug er aus. Er schlug sich durch und war geschickt darin. Bis er erwischt wurde. Als es immer gewalttätiger wurde in Deutschland war für ihn, da er geringfügig vorbestraft war, KZ angesagt (grüner Winkel). Dort kam ihm zugute, dass er mal gut Korbmachen erlernt hatte. Das war kriegswichtig beim Herstellen der Körbe für die Geschosse.

 

Katastrophen-Politik, fatale Ökonomie, „Einstellungsmuster“, die zur Gewalt drängten, Nationalismus, Antisemitismus und Rassismus und rückwärts gewandte Reichs-Spiele sowie eine brutale Industrialisierung hatten hemmungslos um sich gegriffen. Dadurch war über die Katastrophe des Ersten Weltkriegs hinaus weitere Gewalt-Tat angesagt im Geschichtsprozess und mit den unterdrückerischen, ausbeuterischen, entrechtenden und entwürdigenden Methoden gegenüber Abhängigen oder Unterworfenen, denen zwar die wahrhaft Wert schaffende Arbeit obliegt, die aber von deren Ertrag nicht viel haben, da die Mächtigen sich rücksichtslos selbst bedienen, sich im eigenen Kreis begünstigen. Erinnert uns das nicht an etwas Aktuelles in unserem Kapitalismus, der nun dem Mord immerhin offiziell abgeschworen hat?

 

Ernst wurde, weil er gut nachzudenken und zu analysieren wusste - als agitierender KPD-Parteigenosse ohne Parteibuch auch - zum überzeugten Antifaschisten, zum Linken, eine fundamentale Grundeinstellung, an der er bis zum Ende seiner Tage zu erkennen war. In wiederholten Debatten im späteren, in der Nachkriegszeit erweiterten Familienkreis wurde über die Einschätzung aktueller Entwicklungen und gesellschaftlicher Prozesse gestritten (z.B. Notstandgesetze, Studentenbewegung, RAF). Hier trafen sich auch die Brüder wieder unbefangener als all die frühen Jahre zuvor.

 

Die Ökonomie der Weimarer Republik war überfinanzialisiert (wie auch unsere gegenwärtige). Mit der Inflation und Währungsreform 1923 wurden die Ersparnisse vernichtet qua Akt der Politik. Boden und Produktionsmittel behielten ihren Wert, auch für Kreditbesicherung (näher S. 48). Nach dem Zweiten Weltkrieg lief das dann wieder so. Damit war für die nächste Finanzmisere gesorgt, weil sich überreichliches Geld bei immer Wenigeren ansammelt. Warum wird aus diesem Sachverhalt immer noch keine Folge gezogen? Hinter dem systemisch Ungleichgewichtigen des Geldsystems muss eine falsche, hirnlose Organisation und Einrichtung der Gesellschaft stecken.

 

Dummerweise rief die SPD 1932 zur Wahl von Hindenburg (S. 72) auf. Damit schlug Hitlers politische und geschichtliche Stunde als Diktator. „Am 24. März [1932] stimmten die Christlichen „des Zentrums“ und die Liberalen mit den Nazis dem Ermächtigungsgesetz zu..“ (S. 94) – Fortsetzung?- Juni 2003 wurde unter Rot-Grün mit dem „Finanzstandortförderungsgesetz“ der Finanzmarktkapitalismus liberalisiert und auf die Gesellschaft losgelassen. Folgen? - Noch unabsehbar.- Nun steht das verhängnisvolle Freihandelsabkommen TTIP an.

 

Ernst wusste sich geschickt im KZ durchzulavieren, ein bisschen spielte der Zufall oder auch so etwas wie Glück mit. Was er erlebt hat, ist unerdenklich und kann nur die Lektüre beschreiben. Jedoch, es gab auch Ansätze und Phasen von Solidarität und Kooperation im Schrecklichen, immer aber sehr sehr gefährdet bleibend. Das KZ war eine Organisation zur Vernichtung durch Arbeit.

 

 

 

Gustav (1914 - 2012)

 

Gustav, jüngerer Bruder, schien es ein bisschen besser getroffen zu haben, er konnte – nach der „Zwischenstation“ in einer freundlichen Pflegefamilie - im Waisenhaus Ellwangen, das vom reformpädagogischen Geist nach Pestalozzi und Wichern „beflügelt“ war (S. 30), in gewissem Sinn aufblühen. Einwand gegen das besser Gehabt-Haben: Gustav hatte fast keine Muttererfahrung, das war der Ausfall seines Lebens. „Tante“ Charlotte behandelte ihn im Waisen-Alltag liebevoll, so dass er so etwas wie eine familiäre Heimat ansatzweise empfinden konnte. Er war schulisch so erfolgreich, dass mit ihm das Stipendiat fürs Abitur-Ablegen an der Reihe gewesen wäre, jedoch, die Inflation (1924) hatte das Stiftungskapital aufgefressen...

 

Weitere Stationen wurden ihm: Bildhauerlehre (durch Ellwangen ermöglicht), handwerkliche Wanderschaft, daneben Hinwendung zur Fliegerei, zunächst mehr entwickelnd am Modell versucht; dann, daraus folgend, aber: Flieger-Einsatz im Krieg Hitlers gegen die Welt, über 9 Jahre. 3154 Stunden auf der Ju52 für die Deutsche Luftwaffe geflogen, vorwiegend in Transport- und Versorgungsflügen für das Heer. Ohne den tödlichen Absturz dabei zu erleiden. Etwas wie ein Wunder offenbar.

 

Bildhauerei und Fliegen im Kampf, Jägern ausweichen und entkommen, Tief- und Blindflug, passt das zusammen? Das passt und zeigt, wie sich die Zerstörung auch der Kunst und der geschickten Hände bedienen kann. Gustav bekam Gewissensprobleme, wenn er die Schandtaten gegen die Juden und das geheim und offen üblich gewordenen Quälen und Schikanieren mitbekam, aber fand durchaus im Fliegerjob eben auch Selbstbestätigung, die sein Leben mitprägte, z.B. wenn die Schwieger-Eltern der künftigen Partnerin ihm nötige Anerkennung erteilten, da er eine eindrucksvolle Erscheinung in Uniform geworden war.

 

 

Nach all dem Schrecken

 

Nach dem Krieg: Langsamer Aufstieg im restaurativen, beengenden Adenauerstaat, durch schwierige Fährnisse und Notsituationen hindurch, Auseinandersetzungen um das Geschehene, das Verbrecherische, an dem man widerwillig beteiligt war oder gegen das man wenig oder gar nichts auszurichten zu können glaubte; wiederholte, insistierende Diskussionen der Kinder mit Gustav: Was hast Du damals gemacht, wie konntest Du...; hättest Du da und dort nicht anders handeln können?

 

Bearbeitung der Konflikte um das Unbegreifliche gingen in die Werke der Bildhauerei (mit unterschiedlichen Materialien) Gustavs ein, er reüssierte endlich als Künstler. Die für den öffentlichen Raum gestaltete Kunst, im Umkreis von Kirchengemeinden und auch bei erteilten Privataufträgen, griff die Konflikte um das miteinander verschränkt Humane wie Inhumane, aber auch um das stets konflikt-beladene Menschliche auf. Er machte einen Aufstieg, der sich schwer und langsam anliess, aber möglich wurde im Nachkriegsdeutschland, vor allem auch endlich im Zivilen, nicht mehr in direkter oder indirekter Kriegsvorbereitung oder Kriegsführung. Gustav wurde anerkannt und bekam weiträumig einen Namen.

 

Werke hießen: „Verschlingungen“, „Kassandra“, „Europa“ (ein viel beachteter Frauentorso).

Noch viele weitere finden sich. Ihnen kann nachgegangen werden.

 

Grundsätzliche Auseinandersetzungen fanden auch zwischen den Brüdern Gustav und Ernst (der doch im KZ saß) statt.- Gustav: „Du hattest es besser als ich.“ (S. 296) und „Du hattest die Mutter!“ (S. 297)

 

Grund für die von Ernst und Gustav erlebten furchtbaren Zeiten bis 1945 waren die wirtschaftlichen und sozialen Ungleichgewichte, die eine soziale Psychopathologie der gewaltsamen und gegen-aufklärerischen Lösung nach sich zogen.

 

Ähnliche Ungleichgewichte und Missverhältnisse haben wir heute erneut, bzw. noch immer. Eine enthemmte, gesellschaftliche destruktive Finanzwirtschaft der Geldblasenbildung, wohinter Wetten stecken, rücken die Gesellschaften, die auch anders könnten und wollten, wenn sie nur dürften, einem Abgrund entgegen. Die soziale Schere geht auseinander, die Umwelt vor die Hunde, die Welt zerbricht.

 

Im vorliegenden Buch werden die Prozesse der sozialen Selbstzerstörung, die im 20. Jahrhundert stattfanden - von Gustavs Sohn Frank Nonnenmacher in persönlich abgehaltenen Gesprächssitzungen mit Vater und Onkel anschaulich, aus dem Erlebten gesprochen, festgehalten - auf eindringliche Weise und reichhaltig in Motiven und Details behandelt. Das Buch ist eine fesselnde, jeweils hin und her wechselnde Lese-Fahrt durch eine furchtbare Zeit. Bis auf die anderen Momente, „die es auch gibt“.

 

Auch wenn schon so manches im Buch für bekannt gehalten wird, das Wissen um die Bedingungen und Quellen für strukturelles Übel versiegen nie. Es gibt ein unscharf und scheinbar Harmlos-Werden der Kenntnis und Erkenntnis der Gefahren.

 

Die diskursiven Kämpfe der Brüder um die Verfasstheit der erstandenen Bundesrepublik – Kinder einbezogen - sind für das Buch gegen Ende hin charakteristisches Moment. Es geht also für einen Nutzen des Buches nicht nur um Vergangenheit und was aus ihr zu lernen ist, sondern auch um die jeweilige Gegenwart.

 

INFO:

 

Frank Nonnenmacher, Du hattest es besser als ICH: Zwei Brüder im 20. Jahrhundert, VAS Verlag für Akademische Schriften, Bad Homburg, März 2014

 

ISBN-10: 388864528X

ISBN-13: 978-3888645280