Der neue Pascal Garnier im Septime Verlag
Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Ein starkes Stück. Bitterböse. Erneut haut einen der neue Roman, ja ein Krimi ist es auch und was für einer, einfach um, wobei der Ausdruck neu ja nur für uns Deutsche gilt, denn Autor Pascal Garnier hatte LES INSULAIRES 2010 veröffentlicht, das Jahr, in dem er mit nur 60 Jahren gestorben ist. Das Besondere ist die Normalität seiner Figuren, die aber durch Zusammentreffen unglücklicher oder glücklicher Umstände in Situationen geraten, wo nichts mehr normal ist und Bauchgefühle, also Spontanhandlungen über Tod oder Leben entscheiden. Meist über Tod.
Dabei fängt auch diese Geschichte ganz harmlos an. Da fährt ein gewisser Olivier im TGV nach Paris und eingeschlafen. Beim Aufwachen kommen ihm Erinnerungen an seinen Entzug. Er war nämlich dem Alkohol verfallen und hatte es in einer Klinik geschafft, seine Sucht zu überwinden, so viele Jahre schon und so viele Jahre ist er auch schon mit Odile verheiratet, die er just zwei Wochen nach der Klinik kennengelernt hatte. Nach Paris, wo er herkommt, fährt er nicht gerne. Seine Mutter ist gestorben und er als einziger Sohn soll nun kurz vor Weihnachten alles richten und das bei Eiseskälte, denn man spricht von 17 Grad minus!
Was Rodolphe mit Olivier zu tun hat, erschließt sich erst später. Er bleibt im Roman die interessanteste, weil ungewöhnlichste und eigentlich auch unsympathischste Figur. Er ist blind und hat in der Kälte eine halbe Stunde warten müssen, ehe er eine Karte für den Louvre erstand, weswegen er der Leserin erst einmal leid tut. Aber seine anfänglich harmlosen Fragen vor Géricaults DAS FLOß DER MEDUSA an eine Besucherin, sie solle ihm das Bild doch bitte beschreiben, entpuppen sich als wahre Gemeinheiten. Er kennt das Gemälde aus dem ff. Wir auch, weshalb wir ungefragt hinzufügen, es hängt im Louvre im Saal 77 des Denon-Flügel und mißt die ungeheuerlichen 4,91 × 7,16 Meter, eines der schicksalsmächtigen Gemälde überhaupt nach einer wahren Begebenheit, über die der Österreicher Franzobel 2017 den gleichnamigen Roman schrieb, der in die Zwanziger Auswahl zum Deutschen Buchpreis geriet und den Bayerischen Buchpreis 2017 errang. Das FLOß DER MEDUSA und der vorgegebene Aufklärungsbedarf des Blinden ist sicherlich nur die Einführung in den gemeinen Charakter des Rodolphe. Denn der macht es sich zur Gewohnheit, immer wieder Französischsprechende nach dem Gemälde zu fragen, von dem er mehr weiß als die Besucher. Viel später erfahren wir, daß ein Druck des Gemäldes in der Wohnung hängt, die er mit seiner Schwester Jeanne bewohnt.
Die wird gewißermaßen als Geist durch das Buch wandeln. Nein, nein, sie ist schon lebendig, wenigstens am Anfang, aber so sehr man sich diesen Fiesling Rodolphe vorstellen kann, so blaß bleibt diese schlanke, emsige Frau, die sich um ihren Bruder und auch sonst um alles kümmert, denn nach dem frühen Tod des Vaters war auch ihre Mutter mit den Zwillingen tödlich verunglückt. Sehr schnell wird die Situation eintreten, wo die Welt Jeanne braucht, die Welt in Form ihres Bruders und Oliviers. Dessen verstorbene Mutter ist nämlich die Nachbarin von Jeanne, die nicht wußte, daß sich in ihr die Mutter ihres engsten Jugendfreundes verbarg, mit dem sie nicht nur die Erste Liebe verband, sondern auch eine scheußliche Geschichte, die man nicht gerne in Worte faßt. Sie erkennt ihn auf der Stelle, als Olivier vor ihrer Wohnungstür steht und sie eigentlich über die Beerdigung ihrer Nachbarin informieren wollte, aber bei den ersten Worten stockt, denn auch er erkennt sie wieder. Sie bittet ihn herein und ab da ist er ein willenloses Werkzeug, sie aber auch, denn beide sind einander zugetan auf eine Weise, die keine Erklärung benötigt, aber auch keine Hilfestellung, einander verfallen, ist dann so ein Ausdruck, der paßt.
Ab da ist die Welt aus den Fugen, was sich aber erst stückweise, bzw. leichenweise herausstellt. Rodolphe war bei seiner Sauftour auf den wohnungslosen Roland gestoßen und hatte mit diesem erst die Gegend unsicher gemacht und ihn dann mit in die Wohnung geschleppt, wo jetzt vier Personen sich auf Weihnachten vorbereiten, wozu einfach Alkohol gehört und der kamerasüchtige Rodolphe, der sich und Roland ständig filmt. Das war der Anfang vom Ende von Olivier. Der erste Schluck und er war wieder süchtig, ab jetzt wird er unaufhörlich trinken, was Jeanne weder unterbindet, noch selber exzessive mitmacht, anders als die beiden Säufer Roland und Rodolphe. Warum Olivier am nächsten Morgen in der Wohnung seiner Mutter aufwacht, weiß er gar nicht mehr, aber erst recht nicht, warum in seiner Badewanne der erschlagene Roland im Blut liegt.
Hält sich Olivier für den Mörder? Irgendwie schon, denn er ist ja alleine in der Wohnung mit dem Toten, aber warum hätte er ihn umbringen sollen? Als es plötzlich klingelt, ist es Madeleine, die im Haus wohnend mit der Mutter bekannt war und ihn auch über deren Tod informierte. Die will nun wegen der Beerdigung Näheres wissen, aber er selbst hat andere Probleme, wird nun zweigleisig auch die Beerdigungsmodalitäten nach Weihnachten klären und damit seiner Frau und den Kindern zu Hause erklären können, warum er zu Weihnachten nicht da ist.
Was sich jetzt zwischen den drei Verdächtigen abspielt, wobei einem nur der fiese Rodolphe und der verunsicherte trunksüchtige Olivier verdächtig erscheinen, ist ein Hin und Her, wobei allen drei klar ist, der Tote muß sofort weggebracht werden, gemeinsam nächtens im Wald verscharrt. Danach verbringen die beiden Wiederliebenden die Tage im Bett bis zur Beerdigung und Rodolphe treibt seinen normalen Unsinn und trinkt und trinkt. Doch dann schlägt das Schicksal zu. Der ermordete Roland wird gefunden und da Rodolphe mit ihm ja öffentllch die Trinktour unternommen hatte, ist die Polizei schnell bei ihm zur Befragung. Er wird immer verdächtiger und später wird die Polizei erneut vorbeikommen. Das weiß Jeanne, die eiskalt dem haltlosen Olivier eintrichtert, er solle das Fenster öffnen und Rodolphe durch selbiges stoßen, währenddessen sie einkaufen geht. Jeder wüßte, daß ihr Bruder als selbstmordgefährdet galt und jetzt auch noch unter Mordverdacht, da liege der Selbstmord nahe. So geschieht es.
Alles erscheint klar, der Kommissar will nur noch einmal, um den Fall abzuschließen, mit Jeanne sprechen. Die hat zusammen mit Olivier ihren Abflug auf die Insel vorbereitet, von der sie nie wieder zurückkehren wollen. Doch dann passiert etwas, was nach Murphys Gesetz klingt, daß immer die schlimmste der Möglichkeiten eintritt. Als der Kommissar gehen will, erscheinen im laufenden Fernseher die Bilder vom Gelage mit Roland, als der bei ihnen war, was Rodolphe mit seiner verfluchten Kamera festgehalten hatte. Olivier hatte nämlich dessen Filmkassetten zum Abspielen eingelegt Jeanne handelt schnell.
Olivier hatte längst ein anders Problem. Unaufhörlich spürte er die Ameisen, die entweder in seine Körperöffnungen hineinströmten oder aus diesen heraus. Da hilft nur eins: die Wohnung abdichten, jede Ritze, jeden Spalt verschließen. Jeanne hat er ans Bett gefesselt. Jetzt dreht er den Gashahn auf, will Nudeln kochen, da schießt doch die Ratte...Dann ist es dunkel. Der Gasgestank bringt die Feuerwehr ins Haus, die findet Tote, hüben und drüben in den Wohnungen.
Foto:
Umschlagabbildung
Info:
Pascal Garnier, Die Insel, Septime suspense, Wien 2025
ISBN 978 3 99120 060 4